Oder: Warum niemand über die rechtsextreme Partei Menschen Freiheit Grundrechte (MFG) redet
Kennen Sie den? Ein junger Mann geht im Jahre 1980 in ein Kaufhaus in Moskau. Im dritten Stock angekommen, fragt er eine Verkäuferin: „Sagen Sie, gibt es hier denn keine Schuhe?“ „Ganz im Gegenteil“, antwortet die Verkäuferin schockiert, „hier gibt es keine Bananen, keine Schuhe gibt es im Erdgeschoss!“.
Ich bin, lange nach dem Fall des Eisernen Vorhanges, ohne Vorfahren aus einem kommunistischen Land, geboren und solche lustigen und weniger lustigen Geschichten prägen meinen westlich-normativen Blick auf den real existierenden Sozialismus, wie er in der Sowjetunion und in deren Satellitenstaaten gelebt wurde. Viele Menschen (darunter marxistische Regimekritiker:innen) wurden vom Staatsapparat ermordet, vertrieben, verfolgt und ihre Rechte systematisch beschnitten, so wie das Ausleben der Religion in großem Maße unmöglich gemacht wurde. Dies sind unbestrittene Tatsachen.
Was nicht weniger unbestritten ist, ist, dass im NS-Regime in Deutschland ab 1933 und in Österreich ab 1938 Jüdinnen und Juden systematisch verfolgt, in Konzentrationslager deportiert und dort in großem Maße ermordet wurden. Doch genau an diesem Punkt begebe ich mich unausweichlich in eine Erzählweise, die als Hufeisen bekannt ist. Diese stellt eine besondere Form des Whataboutisms dar.
Von Whatboutismen und Hufeisen
Der Begriff Whataboutism ist durch die Beschäftigung mit der Sowjetunion und Russland populär geworden. Wurden der Sowjetunion Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, so kam von sowjetischer Seite das Argument „Aber in Amerika lynchen sie Schwarze“. Beides entspricht zu 100 Prozent den Tatsachen, jedoch macht das Eine das Andere weder besser noch schlechter.
Whataboutism ist ein recht einfaches Mittel, um von den eigenen Fehlern abzulenken, sie dadurch nicht rechtfertigen oder erklären zu müssen. Mit etwas Übung ist diese Taktik aber recht schnell zu durchschauen und zu entkräften. Sehr oft beginnt eine solche Argumentation mit den Worten „Aber was ist mit …“ (Englisch: “But what about…”).
In meiner politischen Arbeit für die JöH ist diese Methode gemeindeintern und -extern sehr oft beobachtet worden. Wurde beispielsweise die Zusammenarbeit der ÖVP mit der FPÖ, die inhärent und strukturell antisemitisch ist, kritisiert, kam oft die Replik: „Aber Sebastian Kurz ist enorm israelfreundlich“. Alles richtig, aber das ist nicht der Punkt.
Eine ähnliche Argumentationsweise wie der Whataboutism ist das Anwenden der sogenannten Hufeisentheorie. Die Hufeisentheorie geht davon aus, dass das gesamte politische Spektrum aufgebaut ist wie ein Hufeisen. In der Mitte gibt es das gemäßigte Bürger:innentum und je weiter politische Positionen sich Richtung linken oder rechten Extrempunkt bewegen, desto weiter entfernen sie sich von der Mitte und gehen ins Extreme. Diese beiden Extreme, so die Hufeisentheorie, ähneln sich sehr, Extreme sind immer schlecht, deshalb seien Links- und Rechtsextremismus gleichermaßen abzulehnen, da sie in gleichem Umfang gewalttätig und verfassungsfeindlich wären. Ein Beispiel dafür ist: „Ja, die Nazis waren schlimm, in gleichem Maße waren es aber auch die Kommunisten unter Stalin, deshalb lasst uns politisch irgendwo zwischen Beate Meinl-Reisinger und Annalena Baerbock verweilen.“.
Bundeskanzler Nehammer, damals Innenminister und wahrlich kein Antifa-Aktivist, hat Anfang November verlautbart, dass diejenigen, die Waffen sammeln, bei den Linksextremen nicht zu finden seien. Aber das sind nur (mordsgefährliche) Details.
Das kommunistische Graz und besorgte Wähler:innen in Oberösterreich
Am 26. September 2021 geschah etwas Unfassbares: Die Unionsparteien in Deutschland haben es geschafft, das Erbe des Politikgenies Angela Merkel in der ersten Runde komplett zu verzocken.
In Österreich war diese Wahl eines 80-Millionen-Einwohner:innenstaates zwar ein Thema, doch recht bald war die Sondierungsrunde in Deutschland wesentlich uninteressanter als das Ergebnis der Gemeinderatswahl von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs. Dort gelang Elke Kahr, Sozialarbeiterin und Kommunistin, ein Erdrutschsieg. Mit knapp 29 Prozent der Stimmen überholte sie mit der KPÖ die Volkspartei Sigfried Nagls, der die vier Jahre zuvor gemeinsam mit der FPÖ unter Mario Eustacchio die steirische Landeshauptstadt regierte.
Der schlagende Burschenschafter Eustacchio sollte es sein, der noch am Wahlabend vor Elke Kahr und ihrer „Ideologie, die im letzten Jahrhundert eigentlich versenkt gehört hätte“ gewarnt hat. Welche Ideologie meint er damit? Die der Arbeiter:innenbewegung, die für die Abschaffung der Klassen und spezifisch in Österreich gegen Austrofaschismus und Nationalsozialismus gekämpft hat? Ich glaube ihm, dass er diese Ideologie gerne versenkt sehen würde.
Er schafft es aber, einen Diskurs in eine Richtung zu drehen, in der Elke Kahr sich verteidigen muss, so auch in der Zeit im Bild 2, als sie bei Armin Wolf zu Gast war. Warum „kommunistisch“ ein guter Begriff ist, wo doch Kommunist:innen überall, wo sie regiert haben, für Abermillionen Tote verantwortlich waren, wurde sie gefragt.
Während ich froh bin, dass sich der ORF für Menschenrechte einsetzt, grenzt diese Frage, die einen antikommunistischen Diskurs in der Bevölkerung widerspiegelt, an Zynismus. In Österreich hängt man sich gerne am Wort „Kommunismus“ auf, weil „der Kommunismus“ in vielen Ländern Schaden angerichtet hat, und zieht eine steirische Lokalpolitikerin zur Rechenschaft, weil sie sich Marxistin nennt, obwohl sie mit den real existierenden Sozialismen so viel zu tun hat wie Armin Wolf selbst. Des Weiteren wurde sie in Graz gewählt, weil sie seit Jahren eine zuverlässige Wohn- und Mietpolitik verfolgt, zuverlässiger als die SPÖ in Wien, die sich übrigens, wie jede andere sozialdemokratische Partei, in der Tradition der marxistischen Arbeiter:innenbewegungen sieht.
Im aktuellen Corona-Hotspot Oberösterreich kommt zur selben Zeit eine Partei, die aus einem Sammelsurium von Rechtsextremen und Schwurbler:innen besteht, aus dem Stand auf über sechs Prozent: MFG („Menschen Freiheit Grundrechte“). „Ungeimpft“-Sterne, die an eine Ideologie erinnert, die im vergangenen Jahrhundert ausgemerzt hätte werden sollen, sind Teil ihres politischen Geschäftsmodells, so wie es antisemitische Verschwörungsideologien sind.
In Österreich ist es aber dennoch leichter, sich über den Marxismus einer allseits anerkannten, hochempathischen Lokalpolitikerin zu echauffieren, als zumindest zur Kenntnis zu nehmen, dass sich rechts von der FPÖ im Heimatbundesland Hitlers gerade eine Partei etabliert, die sich in der Mitte der Gesellschaft beheimatet fühlt. „Aber in Nordkorea…“
Robin Kratz