Wir stoßen oft auf die Frage nach der jüdischen Identität und ebenso auf die Frage, wie die jüdische Identität ausgelebt wird. Die Aspekte, die in dieser Debatte genannt werden, sind so divers und ebenso oft unvereinbar. Was bedeutet es, jüdisch gebildet und aufgewachsen zu sein? Zu welchem Grad hängt die Auslebung dieser Aspekte von der Adhärenz an theologische Normen ab? Sind diese Faktoren überhaupt bestimmbar? Der entscheidende Faktor, der nahezu immer genannt wird, ist jener der Matrilinearität.
Geht man weiter, stößt man auf immer abstraktere Diskurse über was die Aspekte der Bildung, Selbstidentifikation und das Ausleben einer solchen Identität bedeuten.
Der historische Kontext, in dem dieser Diskurs stattfindet, ist wichtig herauszuheben. Der Prozess einer Identitätsbildung war und ist für Juden und Jüdinnen oft mit Ausgrenzung und mit einer Negierung der Assimilation verbunden. Im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts galt man als assimilierte:r Jude oder Jüdin dennoch als ausgegrenzt. Die Geschichte der Diskriminierung und der Verbrechen der letzten Jahrhunderte mündet in einem starken Gedanken des Schutzes und der Weiterführung dieser Identität und in einem Gefühl, dass Assimilation einen tatsächlichen Identitätsverlust bedeutet.
Die Faktoren einer jüdischen Identität, die man konkret nennen kann, sind zum einen die Matrilinearität und zum anderen eine Adhärenz an die theologischen Verhaltensnormen, die das Judentum vorschreibt. An diesem Punkt sei erwähnt, dass es auch für diese Faktoren ein sehr breites Spektrum an Interpretationsspielraum gibt. Zu den Fragen, wie ein jüdischer Stammbaum nachgewiesen oder die Verhaltensnormen gegeneinander aufgewogen werden, gibt es zwischen den Gemeinden bei weitem keinen Konsens. Obwohl diese Abwägungen strittig sind, ist die inhärente Relevanz dieser Faktoren klar.
Jene Faktoren, die darüber hinausgehen, sind deutlich abstrakter und kaum zu konkretisieren. Von diesen Aspekten gibt es auch deutlich zu viele, um sie aufzählen zu können. Einige sind jedoch besonders erwähnenswert. Dazu zählen die kulturelle Bildung, das Ausleben der vermittelten Werte und die Verbundenheit mit einer jüdischen Identität. Auf die Frage, wie diese Begriffe zu definieren sind, gibt es so zahlreiche Antworten wie es Juden und Jüdinnen auf der Welt gibt. Jedoch kann man gewisse allgemeine Charakteristika hervorstreichen. Zur Bildung gibt es drei zentrale Pfeiler, eine Bildung zur Geschichte, zur Tradition und zur Philosophie des Judentums.
Wichtig für die Übermittlung einer solchen Bildung und einer Zugehörigkeit sind Institutionen des jüdischen Lebens, in denen wir aufwachsen. Seien es Gemeinden diverser Art, deren Jugendorganisationen oder die Hochschüler:innenschaften. Nach diesem Standard ist das jüdische Leben in Wien, trotz seiner geringen Bevölkerungszahl, florierend. Die Diversität der Jugendorganisationen und der Gemeinde reflektiert auch deutlich die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten dieser Aspekte.
Dennoch ist genau diese Diversität ein zentraler Teil der Fragestellung. Je mehr Formen der Bildung und des Auslebens der jüdischen Identität, desto schwieriger wird es, diese miteinander in Verbindung zu setzen. Oft stellt sich auch die Frage, ob sich die einzelnen Arten einer jüdischen Identitätsbildung nicht einander widersprechen. Wiederholt beobachtet man den Bildungsprozess einer Jugendorganisation und bemerkt, dass die dort vertretenen Werte jenen anderer Organisation und den dogmatischen Verhaltensregeln des Judentums widersprechen. Dazu zählt beispielsweise die Stellung der Frau gegenüber dem Mann.
Ungereimtheiten dieser Art sind nicht selten. Man erkennt eine solche beispielsweise an der Stellung patrilinearer Juden und Jüdinnen. Hier stellt sich erneut die Frage, zu welchem Grad die halachische Norm der Matrilinearität mit den abstrakteren Aspekten der Bildung und dem Ausleben jüdischer Normen zu vereinbaren oder abzuwägen ist.
Der historische Kontext von aschkenasischen Juden und Jüdinnen ist einer von besonderer Betroffenheit durch die Verfolgungen des zwanzigsten Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren es speziell diese Gemeinden, die einen erschreckenden Bevölkerungsverlust erlitten hatten. Die Sorge um die Assimilation und dem damit einhergehenden Verlust der jüdischen Identität bestand und besteht. Nach dem Krieg jedoch war eine Selbstisolation nicht mehr mit der reinen Aufrechterhaltung des jüdischen Stammbaums vereinbar. Es ist deshalb die Debatte um eine patrilineare Verbindung zum Judentum genau in diesen Gemeinden wichtig. So gibt es viele Menschen, die sich nach abstrakter Metrik (Bildung, Sozialisation etc.) als Jude oder Jüdin verstehen, und dennoch halachisch kein Jude oder keine Jüdin sind.
All diese Menschen werden seit klein auf jüdisch gebildet, haben sich jahrelang in ihrer Gemeinde und in ihren Jugendorganisationen eingesetzt, sie identifizieren sich als Juden und Jüdinnen und leben dies auch nach ihrem Verständnis aus. Dennoch dessen müssten sie einen jahrelangen Lernprozess durchlaufen, um dem halachischen Standard zu entsprechen. Halacha und gelebtes Judentum sind nicht aufeinander abgestimmt.
Dies wirft die Frage auf, ob der halachische Anspruch die gelebte Identität heute nicht zu sehr einschränkt.
Wie lässt sich Identität vereinbaren mit den diversen Definitionen des Judentums? Der zentrale Faktor, den wir Menschen selbst beeinflussen können, ist der Anspruch, den wir an uns selbst stellen. Ob „Vaterjude“ oder nicht: Diese Norm sollte in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext keine Rolle spielen. Was zählt, ist Folgendes: Wie man auf dem Spektrum zwischen halachischen Gesetzen und jüdischer Bildung, Philosophie und Kultur seinen eigenen Weg zur jüdischen Identität findet.
Valérie & Maximilian Thau