Ukrainische Stimmen
Der Krieg in der Ukraine löst in uns allen schwer fassbare Emotionen wie Erschütterung, Fassungslosigkeit und Frustration aus. Viele jüdische Studierende im deutschsprachigen Raum sind persönlich betroffen, weil es entweder die Heimat ihrer Eltern war oder sie immer noch Familienmitglieder dort haben. Wir wollen ihnen hiermit einen Raum bieten ihre Emotionen, ihren Schmerz und ihre Gedanken auszudrücken.
ZWISCHENWELTEN
Müde Augen. Erschöpfte Gesichter.
Mütter streicheln ihre Kinder in den Schlaf. “Ich will nach Hause, Mama”
Stille. Wie erklärt man seiner 8-jährigen Tochter, dass dieses nicht mehr existiert?
Ich laufe durch den Zug und suche nach einem freien Sitzplatz. Ein gewöhnlicher Moment, nicht?
Heute nicht.
Ich fahre in den Urlaub, freue mich mein Zuhause zu verlassen während
dieser selbe Zug für andere Menschen bedeutet
mit jeder weiteren Station ihrer Heimat ferner zu werden. Ihrer in Flammen stehenden Heimat.
Zerstörte Häuser. Blutüberströmte Menschen. #slavaukraini und #clostheskyoverukraine gefolgt von Videos; gezeigt werden Explosionen Ukrainer:innen in Bunkern sitzend
rufen zum Widerstand auf,
zeigen ihre Lebensrealität und trauern.
Ich versinke in dieser mit Schmerz gefüllten Leere. Stunden vergehen, mein Kopf fühlt sich schwer an. Ich scrolle weiter:
Ein Partyfoto.
Ein gewöhnlicher Moment, nicht? Heute nicht.
Wir posten Stories von uns am feiern, lachen, leben während nur einen Klick entfernt
Menschen kämpfen, weinen, sterben.
Seit einem Monat lebe ich zwischen Welten zwischen Hinschauen und Wegschauen zwischen Paralyse und Normalität zwischen Ausnahmezustand und Alltag
Diese Zwischenwelt ist ein Privileg
denn dieser Raum kann schmerzhaft sein doch kann ich mich ihm entziehen
und meinen Alltag weiterleben
Abends im Bett liegend bete ich,
dass Züge bald wieder für Urlaub stehen
und, dass Geschichten über Frieden und Leben geteilt werden.
Sophie Orentlikher
BLAUGELBE SONNENFINSTERNIS
am himmel, gewitter aus ebbe wird flut
die nächte sie leuchten kein auge geht zu
auch wenn ich dich treffe in anderer form
bleibst du familiengeschichte und revolution.
zwischen grenzen treffen,
welten aufeinander fremde reichen die hände
und aus nachbarn werden feinde
doch ich weiß: sie werden schwinden wie der tau in der sonne
deine weizenfelder wieder blühen denn der frieden wird kommen
Mascha Disman
EINSICHT
Eigentlich bin ich am 20. Februar in meine Heimatstadt Nürnberg gefahren, um mit meiner Oma ihren 75. Geburtstag zu feiern. Aufgrund meines Studiums wollte ich nicht länger als bis zum 25. Februar bleiben. Als am 24. Februar Russland in die Ukraine einmarschierte und Bomben auf Kiew warf, kam jedoch alles anders. Ich habe viele Verwandte in der Hauptstadt und war zunächst unter Schock – Bomben in Kiew, meiner zweiten Heimat? Ich verstand die Welt nicht mehr. Mehr und mehr kam die grausame Realität auf uns zu – es herrscht Krieg. Seit Beginn des Krieges sind nun 8 Tage vergangen, zwar bin ich aufgrund meines Studiums wieder in Wien, ich fühle mich aber leblos, ausgebrannt. Wir helfen unseren Verwandten zu fliehen, während ich von meinen Mitstudenten nach Altklausuren für die Prüfung gefragt werde. Unsere Großeltern im Schockzustand, sie können nicht mehr schlafen. Kinder sterben durch Bomben und Frauen gebären in Schutzbunkern und ich werde gefragt, ob ich Lust hab heute mit meinen Freunden in die Stadt zu gehen und was zu essen. Spaß? Jetzt? Seid ihr bescheuert? Meine Realität fängt immer mehr an zu verschwimmen – in der Heimat meiner Familie herrscht Krieg und hier ist ganz normaler Alltag. Und mit all diesen nicht in Worte fassbaren Emotionen wird mir jetzt erst klar: Das ist nichts Neues. All dieses Leid, was meine Verwandten, mein Volk erlebt, ist tagtäglich die Situation so vieler Menschen weltweit. Erst jetzt kann ich wirklich nachvollziehen, was es heißt, indirekt von Krieg betroffen zu sein. Und ich wünsche es niemandem. Aber wünschen reicht nicht – allein durch wünschen werden Hungernde nicht aufhören zu hungern und Getötete nicht wieder lebendig. Es erfordert Handlung, Hilfe von jedem Einzelnen von uns, um solch ein Leid zu verhindern. Jeder Einzelne von uns ist in der Lage unsere Gesellschaft so zu verändern, dass unsere Kinder und die Kinder Anderer nie – ich betone NIE – das Leid und den Schrecken verspüren, den diese Menschen gerade durchmachen. Hoffentlich werden wir als Menschheit eines Tages begreifen, dass Krieg keine Lösung sein kann.
Andreas Pashchenko
ЧЕРВОНЕ
TSCHERVONE
ROT
Klettere bis unten in die Wurzeln meines Stammbaums
Zum Dorf meiner Oma das die Bedeutung Rot einst nur im Namen trug
Als die Bedeutung Rot noch nach Blumen schmeckte
Und das Dorf noch tanzte vor dem Fluch
Nun sind Rot die Nachbarstädte
Rote Pfützen spiegeln Bruchteile der Überreste
Eines Landes vieler Farben nur nicht Rot
Bis ein Diktator aufstieg und sein Land belog, seine Brüder betrog
Bomben Bunker Heimatland
Alte Bilder neue Realität
Hoffnung auf den Widerstand
Noch ist es nicht zu spät
Panzer Schreie Wahrheitsverbot
Leben neugeboren, unterirdisch, mitten im brennenden Tod
Mein ganzer Körper in Alarmbereitschaft
Frag mich wer’s nicht und wer’s geschafft hat
Rot meine Familie, vor Erschöpfung, vom Zerfall der heimischen Linie
Nachbarländer wehen blau und gelb
Fordern bunte Stimmen den Zusammenhalt der Welt
Solange Rot davonfließt und Mensch unfreiwillig wird zum Held
Jeder Sonnenaufgang lässt mich aufs neue wundern,
Ist Omas Dorf schon Rot, das die Bedeutung einst nur im Namen trug?
Jen Morgulis