„Even old New York was once New Amsterdam”

Vielen ist unklar, wer und was die Sephardim eigentlich sind. Hier der Versuch einer historischen und biographischen Aufarbeitung

Dies ist eine Zeile aus dem Lied Istanbul (not Constantinople) der Band They Might Be Giants. Und in genau dieser Zeile steckt ein Riesenstück sephardischer Geschichte. In der niederländisch-brasilianischen Kolonie, ebenfalls Neu-Holland genannt, gründeten sephardische Jüdinnen und Juden in Recife, im Nordosten des heutigen Landes, die erste Synagoge Amerikas. Als die Kolonie 1654, nach 24-jährigem Bestehen, in portugiesische Hand kam, blieb den Sephardim nur wenig Zeit, bevor die portugiesischen Herrscher:innen sie zum Ausreisen zwangen. Auf Umwegen gelangten einige dieser Jüdinnen und Juden nach Nieuw Amsterdam, wo 1654 die älteste jüdische Gemeinde Nordamerikas entstand. Später trafen auch Ashkenazim, angezogen von der relativ tolerant-liberalen Haltung der holländischen Besatzungsmacht gegenüber Jüdinnen und Juden, in Nieuw Amsterdam ein, wodurch die jüdische Gemeinde weiter wuchs. An dieser Stelle kann man sich fragen, was denn von den sephardischen Pionier:innen geblieben ist. Inwiefern werden sie erwähnt, wo findet sich ihr Platz in der jüdischen Geschichte Amerikas wieder? 

Von spanischen Königinnen und Essensschlachten

Mein Zugang zum sephardischen Judentum war immer etwas schwammig. Sehr säkulare Eltern, enorm religiöse Großeltern. Die Feiertage wurden gefeiert, in die Synagoge wurde gegangen. Das Shema Israel kann ich auswendig, beim Kiddush wird’s schon schwieriger. Ich dachte immer, dass es mein fehlender Enthusiasmus gegenüber der Religion war, der es mir manchmal so schwer machte, mich in jüdischen Gruppen zurecht zu finden. Ich dachte, es wäre meine Erziehung, die mir so vieles fremd erscheinen ließ. Bis ich mit 18 Jahren das erste Mal das Wort „Ashkinormativity“ hörte und plötzlich wurde mir vieles klar. Die Person, die den Begriff verwendete, verstand darunter: Wenn Menschen über das Judentum sprechen, sich vorstellen, was ein typischer Jude, eine typische Jüdin, eine typisch jüdische Tradition eigentlich ist, dann ist das meistens eine Vorstellung des ashkenasischen Judentums, zumindest in europäischen und nordamerikanischen Kontexten. Sind Sephardim also die „anderen Jüdinnen und Juden“? Oft ist die Antwort darauf: Ja. Dies zeigt sich schon im Synonym „orientalische Jüdinnen und Juden“. Der Orient als Konzept ist ein westliches, konstruiert von Europäer:innen, und wirft somit auch immer einen Blick auf das Andere, das Exotische. Und das Exotische ist nie ein Teil von uns. Wer sind dann die Sephardim?
Ein altes, weises sowie von mir erfundenes, Sprichwort sagt folgendes: „Am sephardischsten sind wir, wenn wir uns mit den Ashkenazim darüber streiten, wer das bessere Essen hat.“

Zu wenig Substanz? Na gut. Die Sephardim sind die Nachfahr:innen der jüdischen Gemeinden Spaniens, welche unter Isabela La Católica 1492 vertrieben wurden. Die Migration erfolgte in das tolerantere osmanische Reich, später auch nach Amsterdam, London und New York (beziehungsweise Nieuw Amsterdam). Die Sephardim unterscheiden sich in Ritus und Kultur von den Aschkenasim. Wer unter den Begriff „Sepharde“ fällt, das wurde im 20. Jahrhundert erweitert. 

Sprachpolitiken und Sprachbiographien

Ein großer Teil der sephardischen Identität, besonders der des Mittelmeerraums, geht von der Sprache aus – dem sogenannten Ladino, auch bekannt als Judenspanisch. Die Sprache ist rein theoretisch ein archaisches Spanisch, was zwar Einflüssen des Hebräischen, Arabischen, Französischen, Italienischen, Griechischen und des Türkischen ausgesetzt war, aber im Grunde genommen einfach ein Spanisch ist, das auf der Sprache beruht, die eben im 15. Jahrhundert in Spanien gesprochen wurde. Nein, es ist kein sephardisches Jiddisch. Das Ladino weist viel weniger Hebräismen auf und hat sich auch als eine wichtige Handelssprache etabliert. Ladino wurde im ganzen Mittelmeerraum gesprochen – besonders in Thessaloniki und in Sarajevo, sowie in Teilen Nordafrikas. Einige Sephard:innen haben nur Ladino gesprochen. Dabei muss man bedenken, dass wir vom 19. und vom frühen 20. Jahrhundert ausgehen. Die Nationalstaaten waren frisch, die Idee einer Nationalsprache vielerorts, so auch im osmanischen Reich, nicht wirklich ausgereift. Dies machte es in den 1940er Jahren den Nationalsozialisten auch relativ einfach, in Thessaloniki die jüdische Bevölkerung zu identifizieren. Öfters sprach diese nur schlechtes oder gebrochenes Griechisch, ganz im Gegensatz zu den Romanioten, deren griechisch-jüdische Kultur sich auf das antike Griechenland zurückführen lässt. Und dann geschah die Shoah. Im Holocaust wurde die Mehrheit der sephardischen Bevölkerung in Thessaloniki ermordet, die wenigen Überlebenden haben sich auf der ganzen Welt verstreut. Das einstige „Jerusalem des Balkans“ ist nicht mehr. Und mit dem Verlust der jüdisch-sephardischen Gemeinden Europas kam schleichend auch der Verlust von Ladino. Viele Sephard:innen haben aufgrund von Migration ihr Ladino nicht weitergegeben. Die, die es noch sprechen, haben es meistens von ihren Großeltern gelernt. Auch, wenn es gerade ein Revival in Form von Sprachkursen gibt, sieht es  so aus, als würde Ladino in Form einer generationsübergreifenden Sprache aussterben.. Für viele von uns ist unser Sephardisch-Sein schwammig.

Das Ende der alten Welt

Es wird von der Welt unserer Großeltern erzählt. Einer Welt, die verloren ist; einer Welt, in die wir nicht zurückkehren können. Diejenigen von uns, die noch Ladino können, wechseln meistens ins Französische, eine ebenso beliebte Sprache unter Sephardim, wenn wir andere Ladino-Sprecher:innen treffen. Oft reicht unser Ladino nicht mehr aus, um uns so auszudrücken , wie wir es in unseren anderen Sprachen können. Ladino ist oft nur mehr eine Erinnerung an die Kindheit, welche wir mit unseren Großeltern verbracht haben, die uns Geschichten in einer Sprache erzählt haben, die uns so nah war und mittlerweile so fern ist. Meistens ist es einfach: Sprachkurs oder die Sprache verlieren. Ich mache mir keine Illusionen, ich werde die Sprache nicht weitergeben können. Ich sehe es in Thessaloniki, der hoch gepriesenen Stadt meiner Großeltern; dort leben 2000 Jüdinnen und Juden, die wenigsten von ihnen können Ladino. Meine Geschwister und ich können, obwohl wir alle Ladino sprechen und lesen können, diese Sprache nicht weitergeben. Dafür fehlen uns Vokabular, Grammatik und Thessaloniki. Das Einzige, was wir weitergeben können, sind die Geschichten einer Welt, die fast zu perfekt erscheint, um wahr zu sein und die Geschichten des Klanges einer Sprache, der sich durch unsere Kindheit zog.

Lior Saltiel