Antisemitismus als Kriegswaffe

Antisemitismus als Kriegswaffe

Kyiv. Cherkasy. Cherinihiv. Zhytomir. Odessa. Uman. Orte die derzeit jeden Tag in den Nachrichten sind. Orte, an denen Russland derzeit Kriegsverbrechen begeht. All diese Namen sind aber auch tief in die kollektive (zumindest ashkenasisch) jüdische Psyche eingebrannt. Sie waren Zentren jüdischen Lebens in der Ukraine, und vor allem Orte, an denen Pogrome stattgefunden haben. Lange Zeit war die Ukraine einer der antisemitischsten Orte der Welt, mehr als 100.000 ukrainische Juden:Jüdinnen wurden vor der Schoa ermordet, weitergeführt wurde dieser eliminatorische Antisemitismus von Banderas Kollaborationsregime während des zweiten Weltkriegs. Für ältere Jüdinnen und Juden war die Ukraine ein Synonym für Antisemitismus. Beendet wurde dieser andauernde Massenmord (nicht aber der Antisemitismus) von der Roten Armee.

Heute ist die Situation eine gänzlich andere: Diverse Studien zeigen, dass die Ukraine aktuell das wohl am wenigsten antisemitische Land in Zentral- und Osteuropa ist. Während beispielsweise in der Region rund ein Fünftel der Bevölkerung Jüdinnen und Juden nicht als Staatsbürger:innen akzeptiert, sind es in der Ukraine nur fünf Prozent, wie eine Erhebung des Pew Research Centers zeigt. Doch es geht darüber hinaus: 2019 wurde der Jude Wolodymir Zelensky mit rund 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt, etwas, das an vielen Orten dieser Welt wohl so nicht möglich gewesen wäre.

Natürlich ist nicht alles eitel Wonne in der Ukraine. Nazi-Kollaborateur Bandera wird teilweise verehrt, mit dem Azov-Regiment gibt es eine lupenreine faschistische Kampfeinheit. Bei den letzten Wahlen 2019 kamen die rechtsextremen Kräfte allerdings auf nicht einmal drei Prozent der Stimmen – Zustände, von denen man in Westeuropa nur träumen kann.

Wiewohl die Lage für Jüdinnen und Juden in der Ukraine stetig besser wurde, änderte sich das schlagartig mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022. Denn neben Mord, Vertreibung und barbarischen Kriegsverbrechen, verwendet Russland Antisemtismus gezielt als Waffe im Krieg gegen die Ukraine.

“Gerechtfertigt” hat Putin den Einmarsch unter anderem damit, die Ukraine “entnazifizieren” zu wollen. Ein natürlich grotesker Vorwand, der noch absurder wurde, als Putin die rechtsextreme Wagner-Gruppe (benannt nach Hitlers Lieblingskomponisten) mitsamt deren Führer Dmitry Utkin, der SS-Runen und einen Reichsadler mitsamt Hakenkreuz auf die Brust tätowiert hat, nach Kyiv entsandte, um den jüdischen Präsidenten der Ukraine, dessen Vorfahren teils während der Schoa ermordet wurden, umzubringen, und zwar um die Ukraine zu “entnazifizieren”.

Doch so absurd dieser Vorwand auch ist, zeigt er, wie Putin Antisemitismus als Kriegswaffe verwendet. Zunächst: Vladimir Putin ist ein Faschist, Russland mittlerweile eine faschistische Autokratie. Der Faschismus-Forscher Jason Stanley definiert Faschismus als “Führerkult, der angesichts der angeblichen Demütigung durch ethnische oder religiöse Minderheiten, Liberale, Feminist:innen, Einwanderer:innen und Homosexuelle die nationale Restauration verspricht. Der faschistische Führer behauptet, die Nation sei von diesen Kräften gedemütigt und in ihrer Männlichkeit bedroht worden. Sie müsse ihren früheren Ruhm (und oft auch ihr früheres Territorium) mit Gewalt zurückgewinnen. Er bietet sich selbst als der Einzige an, der den Ruhm der Nation wiederherstellen kann.”

Zentral im europäischen Faschismus ist es, diesen die Nation zersetzenden Feind als heimat und wurzellosen Juden zu definieren und als die Triebkraft hinter dem angeblichen moralischen Verfall liberaler Demokratien zu sehen. Die Antwort, die der Faschismus bietet, ist die Ausübung von Gewalt, um die “pure” und “reine” Nation wiederherzustellen. Verantwortlich für den ideologischen Unterbau Putins und des russischen Faschismus sind die faschistischen Denker Alexander Dugin (gern gesehener Gast am FPÖ-Akademikerball) und Alexander Prokhanov. Zentral in den Texten beider ist – wie der Historiker Timothy Snyder es in seinem Buch “The Road to Unfreedom” beschreibt – der Wunsch nach Rückkehr zur Macht der Sowjet- union in faschistischer Form. Zentrales Hindernis für dieses Projekt ist eine freie, demokratische und offene Ukraine, noch dazu angeführt von einem jüdischen Präsidenten – sinnbildlich für die jüdische Gefahr, die “traditionellen Nationen” droht.

Im Lichte dieses geplanten faschistischen Projekts mag es widersprüchlich erscheinen, ausgerechnet “Entnazifizierung”, also das genaue Gegenteil, als Vorwand zu verwenden. Dugin und Prokhanov greifen in ihrer Ideologie allerdings auch ein in Teilen Osteuropas verbreitetes, antisemitisches und Schoa-verharmlosendes Narrativ auf: Christliche Russen und Russinen (oder andere Osteuropäer:innen) als wahre Opfer der Nazis, deren Leiden von einem jüdischen Opferkult, den das jüdische Volk zu seinem Vorteil, und um sein Ziel – die Zersetzung “traditioneller Gesellschaften” – zu erreichen, verwendet.

In diesem Kontext ergeben auch die offensichtlichst antisemitischen Aussagen des Konflikts – die abstrusen Behauptungen des russischen Außenministers Lawrow, dass “Jüdinnen und Juden oft die schlimmsten Antisemit:innen seien” und Hitler selbst “jüdisches Blut gehabt habe”, und so Jüdinnen und Juden selbst Schuld an der Schoa gewesen seien, innerhalb der Gedankenwelt des russischen Faschismus Sinn. So wird das Narrativ eines von außen-bedrohten Russlands, das einen liberalen “Kabal” – verkörpert vom demokratisch gewählten, anti-autoritären, jüdischen Präsidenten der Ukraine – abwehren muss, wie einst die Nazis, deren wahre Opfer das russische Volk gewesen sei.

Gleichzeitig ging und geht es Jüdinnen und Juden im heutigen Russland oft nicht schlecht, gerade Putin betont gerne seine Nähe zu ihnen. Auch das ist kein Widerspruch: Immer mehr Rechtsextreme definieren Minderheiten nicht mehr biologisch, sondern kulturell, ideologisch und identitär. Juden:Jüdinnen die also ins Narrativ passen und nicht für die, die Nation zersetzende, moralische Verkommenheit offener Gesellschaften stehen, können also durchaus für Propagandazwecke instrumentalisiert werden.

Insgesamt geht die Bedrohung, die vom russischen Faschismus und Antisemitismus ausgeht, über die Ukraine hinaus. Putin kann mittlerweile wohl als die zentrale Figur der globalen, extremen Rechten bezeichnet werden. Die russische Regierung finanziert nicht nur rechtsextreme Parteien wie die FPÖ, die AfD und das RN, sondern ist wichtiger Propagandist für die während der Corona-Pandemie explodierte, verschwörungideologische Szene. Der russische Faschismus zeigt aber auch, dass Ideologien, die “traditionelle Werte” und ihre “Nation” verteidigen wollen, untrennbar mit Antisemitismus verbunden sind, selbst wenn dieser lange nicht im Vordergrund steht.

Im nun schon mehr als hundert Tage andauernden Krieg geht es zunächst um das Leben und die Freiheit der Menschen in der Ukraine. Putin muss gestoppt werden, um das Morden in der Ukraine zu beenden, damit Ukrainer:innen ihre Freiheit und Sicherheit wieder gewinnen. Es geht darüber hinaus aber auch um die Verteidigung offener Gesellschaftsentwürfe, Demokratie und die zukünftige Rolle von Jüdinnen und Juden in unserer Welt. Und um das zu gewährleisten reicht eine Niederlage Putins am Schlachtfeld nicht aus – die dahinter liegende Ideologie, die sich auch im Westen immer weiter verbreitet, muss besiegt werden – nur so gibt es eine menschenwürdige Zukunft für alle.

BINI GUTTMANN