Warum “Einzeltäter” bei ihren Taten nicht vereinzelt sind.
Es war 13:45 Uhr. Zu dieser Uhrzeit gab im neuseeländischen Christchurch der Attentäter die ersten Schüsse in der Al-Noor-Moschee ab. Er war mit einer halbautomatischen Waffe, einer kugelsicheren Weste und einem Helm ausgestattet. Militärische Kleidung, martialisches Auftreten. Er zielte auf Muslim:innen, die in der Moschee zum Gebet zusammen kamen. Im Anschluss an diesen ersten Anschlag stieg der Attentäter wieder in sein Auto und begab sich – weiter auf Menschen schießend – ins Linwood Islamic Centre, wo er erneut das Feuer, auf die dort Anwesenden, eröffnete.
Dass wir den Tathergang heute so genau nachvollziehen können, liegt nicht nur an der anschließenden kriminaltechnischen Untersuchung. Denn die genauesten Informationen lieferte der Attentäter selbst, indem er sich filmte. Seine Action-Cam übertrug einen Live-Stream auf Facebook. Somit waren große Teile des Tatverlaufs zu beobachten. Viele User:innen wurden Zeug:innen davon, wie etliche unschuldige Menschen an diesem Tag ermordet wurden. Doch warum sollte ein Attentäter die Beweise gegen sich selbst verbreiten? Der Versuch diese Frage zu beantworten, weist auf ein tiefer liegendes Problem hin: die Darstellung von rechtsterroristischen Attentäter(:innen) in der medialen und politischen Auseinandersetzung. In der weit überwiegenden Mehrheit, der in Deutschland bekannten Fälle von rechtsterroristischen Anschlägen, handelt es sich bei den Tätern um Männer. Diese geschlechtliche Dimension ist unserer Auffassung nach explizit zu benennen. Doch auch, wenn die Anzahl an Täterinnen weitestgehend marginal bleibt, ist eins zu betonen: Frauen nehmen in Netzwerken zentrale Funktionen ein. Das zeigte unter anderem der Fall des NSU. In unterschiedlichem Maß kommt es in der Öffentlichkeit und Strafverfolgung zu einer Pathologisierung (Hendrik Puls, der zu Dimensionen des Lone-Actor-Terrorismus in Deutschland forscht, betont, dass „psychische Auffälligkeiten […] ebenso wie persönliche Kränkungen […] nicht als alleinige Erklärungen der Taten gelten dürfen.“), einer Entpolitisierung und der Gleichsetzung von Einzeltäter(:innen)schaft mit Isolation. Das Jahr 2019 trug auf tragische Weise vieles zu dieser Fehleinschätzungen bei.
Was am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch begann, zog sich über die US-amerikanischen Städte Poway und El Paso und erreichte am 9. Oktober 2019 Halle an der Saale. Rückblickend sind diese vier Städte unweigerlich durch die Blutspur des internationalen Rechtsterrorismus verbunden. Der Rechtsterrorist von Christchurch erlangte nicht zuletzt aufgrund seiner Live-Übertragung der Anschläge weltweite Berühmtheit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, warum die Vorstellung, dass rechtsterroristische „Einzeltäter:innen“ isoliert handeln, unzutreffend ist. Der 51-fache Mörder von Christchurch wird in den Untiefen des World Wide Web von Gleichgesinnten als “Heiliger” verehrt. Auf Imageboards und Messenger-Diensten haben sich dutzenden Gruppen gebildet, in denen Videos von rechtsterroristischen Anschlägen sowie Manifeste der Täter(:innen) verschickt und ihre Taten glorifiziert werden.
Außerdem hat er dem Kopf der neofaschistischen Identitären Bewegung Martin Sellner im Jahr 2018 1.500 Euro gespendet und damit dessen rechtsradikale Unternehmungen mitfinanziert.
Drei der Verehrer des Christchurch-Attentäters waren die Rechtsterroristen von Poway, El Paso und Halle. Am 27. April 2019 kamen in der Chabad-Synagoge im kalifornischen Poway Jüdinnen und Juden zusammen, um den letzten Tag von Pessach gemeinsam zu begehen. Die Feierlichkeiten endeten mit einer ermordeten Person und mehreren Verletzten. Der antisemitische Mörder schrieb vor seiner Tat: “B.T. (Name des Christchurch-Attentäters) war für mich ein persönlicher Katalysator. Er hat mir gezeigt, dass es machbar ist und, dass es getan werden muss.” Auch aus seiner Bewunderung für den Rechtsterroristen von Pittsburgh, der 2018 in der Tree-of-Life-Synagoge elf Menschen erschoss, macht er keinen Hehl. Nur wenige Monate später, am 3. August 2019, erschütterte ein rassistischer Anschlag die texanische Stadt El Paso. In einem Walmart eröffnete der Mann, der sich selbst als “Unterstützer des Christchurch Schützen und seines Manifestes” bezeichnete, das Feuer und ermordete 22 Menschen. Sein antisemitisch-rassistisches Weltbild zeigte sich vor allem dadurch, dass er die “lateinamerikanische Invasion in Texas” verhindern wollte.
Eng verbunden damit ist das Weltbild des Attentäters von Halle. Am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur, erschütterte ein rechtsterroristischer Anschlag die jüdische Gemeindschaft in Deutschland. Der Tathergang ähnelte jenem in Christchurch, da der deutsche Rechtsterrorist ebenfalls militärisch gekleidet war und sein Morden zeitgleich im Internet zur Schau stellte. Wie viele Rechtsradikale und Rechtsterrorist(:innen) hing er den antisemitischen, rassistischen und misogynen Verschwörungerzählungen des “Großen Austauschs” an. Er hatte Jüdinnen und Juden als „Ursache“ und Muslim:innen als „Symptom“ bezeichnet, weshalb er nach seinem – aufgrund des Versagens seiner Waffen – gescheiterten Angriffs auf die Synagoge der jüdischen Gemeinde Halle, den nahegelegenen KiezDöner angriff. Am Ende des Tages ermordete er Jana Lange vor der Synagoge und Kevin Schwarze im KiezDöner. Vor dem Oberlandesgericht Naumburg gab er später an, dass der Anschlag von Christchurch ein einschneidender Punkt in seinem Leben gewesen war und er ihn schlussendlich zu seiner Tat motiviert hatte. Außerdem habe er alles, was er an online verfügbaren Informationen zum Anschlag in Neuseeland finden konnte, gespeichert.
Die Anschläge von Poway, El Paso und Halle zeigen, wie Rechtsterrorist:innen mit dem Symbolcharakter ihrer Taten arbeiten, um mit ihrer Community zu kommunizieren. Die Meisten sind nie alleine und rechter Terror hat immer Vorbildcharakter für potenzielle Nachahmer(:innen). Von vermeintlichen Einzeltäter(:innen) zu sprechen, kommt einer gesellschaftlichen Entlastungsstrategie gleich: Denn große Teile der Gesellschaft wollen sich nicht damit beschäftigen, wie weit die für solche Taten notwendigen Ideologien, auch in der vermeintlich so ideologiefreien „Mitte“ Anklang finden. So muss es als Fortschritt bezeichnet werden, dass die deutsche Bundesregierung Anfang 2020 den Anschlag von Halle als Beispiel für eine globalisierte Form des Antisemitismus, des Rechtsterrorismus und eines digitalisierten internationalen „Ideologietransfers” einstuft und den Rechtsterrorismus im Koalitionsvertrag von 2021 als größte Bedrohung bezeichnet.
Wissenschaftliche Studien zum Rechtsterrorismus wie beispielsweise von Noémie Bouhana, Emily Corner, Paul Gill und Bart Schuurman aus dem Jahr 2018 stellen klar dar: Von den vermeintlichen „Einzeltätern“ stand knapp die Hälfte in naher Verbindung zu Mitgliedern radikaler Netzwerke und weitere 35 Prozent standen mit ihnen im virtuellen Kontakt. Bei ganzen 64 Prozent der Anschlägen von vermeintlichen „Einzeltätern“ war das Vorhaben bekannt. Dass andere Menschen von den Plänen und dem Weltbild der Täter(:innen) Bescheid wussten, liegt vor allem daran, dass sie durch ihre Beheimatung in einer „digitalen Hasskultur“ (Maik Fielitz) miteinander verbunden waren. Alle der genannten Täter waren darum bemüht, dass ihre antisemitische und rassistische Nachricht gehört wird. Das Internet bot die besten Voraussetzungen dafür.
Ruben Gerczikow & Monty ott