Die vergessenen Flüchtlinge
Historische Gerechtigkeit beginnt damit, das vergessene Leid der arabischen Juden zu erzählen und in Erinnerung zu behalten.
Die Einwanderung europäischer Jüdinnen und Juden nach Israel und die sogenannte palästinensische Nakba sind sowohl innerhalb Israels als auch weltweit bekannt. Allerdings kennen die Wenigsten die Geschichte der Vertreibung und Flucht von rund 850.000 Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten sowie aus dem Iran nach Israel. Dies, obwohl es zeitgleich geschah und 56 Prozent der gesamten Einwanderung Israels ausmachte.
Ein Leben zwischen relativer Toleranz und Verfolgung
Die Bezeichnung Misrachim bedeutet im Hebräischen „Östliche“ und steht für Jüdinnen und Juden, die aus arabischen Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten sowie aus dem Iran stammen. Jüdinnen und Juden siedelten noch vor der Entstehung des Islam in die heutzutage islamisch geprägten Länder. Mit dem Ende der Antike und dem Beginn der islamischen Expansion in den 630er Jahren veränderte sich auch die Situation der Jüdinnen und Juden in den betroffenen Gebieten. Das islamische Recht sah vor, dass sie zwar als Schutzbefohlene Dhimma geduldet wurden, gleichzeitig jedoch ihren muslimischen Mitbürger:innen rechtlich und gesellschaftlich untergeordnet waren. Allerdings war dies kein Garant für ihre Sicherheit, da die Berücksichtigung dieses Status vom Wohlwollen des jeweiligen muslimischen Herrschers abhing.
Es gab mittelalterliche Epochen, in denen das Zusammenleben blühte. So zum Beispiel im „Goldenen Zeitalter“ im muslimisch beherrschten Teil der Iberischen Halbinsel, in der Córdoba auch zu einem Zentrum der Talmud-Wissenschaft wurde. Die Blütezeit endete jedoch mit dem Massaker an den Jüdinnen und Juden von Granada 1066. Die Welle der Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung in den arabischen Ländern hielt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an und führte schließlich zur Massenflucht hunderttausender Jüdinnen und Juden in den 1948 neu gegründeten Staat Israel. Zu den bekannten Pogromen der Neuzeit, in denen jeweils hunderte Jüdinnen und Juden ermordet wurden, zählen unter anderem der Farhud, auf Arabisch „gewalttätige Enteignung“, in Bagdad 1941, der Pogrom von Tripolis 1945, der Pogrom von Aleppo 1947 oder die Pogrome von Oujda and Jerada 1948 in Marokko. Die Hintergründe dafür waren der Aufstieg des arabischen Nationalismus sowie die Entscheidung der Arabischen Liga, die Judenvertreibung als eine Vergeltungsmaßnahme für die Errichtung des Staates Israel durchzuführen.
Meine Familie lebte nachweislich rund fünfhundert Jahre lang in der tunesischen Küstenstadt Sousse. Sie blieben zwar von Pogromen verschont, litten jedoch unter der Terrorherrschaft der Nazis und des Vichy Regimes während des Zweiten Weltkrieges und wurden gleichzeitig auch von arabischen Mitbürger:innen angefeindet. Als Israel gegründet wurde, entschlossen sie sich, aus religiösen und zionistischen Idealen heraus dorthin auszuwandern. Um ausreisen zu dürfen, mussten sie aber ihren gesamten Besitz, unter anderem ihre Weizenfabrik, Häuser, Autos und Bankkonten in Tunesien zurücklassen. Somit kamen sie völlig besitzlos in Israel an. So erging es den meisten Misrachim, die nach Israel emigriert sind. Die World Organization of Jews from Arab Countries schätzt den Wert des zurückgelassenen Besitzes der Misrachim auf insgesamt rund dreihundert Milliarden US-Dollar.
Ein neues Leben mit neuen Herausforderungen
In Israel angekommen, wurden die meisten Misrachim mit unerwartet harten Lebensverhältnissen konfrontiert und oft gegenüber den Jüdinnen und Juden aus Europa benachteiligt. Dazu gehörte, dass sie anfangs in armseligen, eilig errichteten Zeltstädten an abgelegenen Orten in der Wüste Negev angesiedelt wurden, wo es, wie im Falle meiner Familie, anfangs nicht einmal fließendes Wasser gab, während die Jüdinnen und Juden aus Europa oft schon in Häusern in genossenschaftlichen Kibbutzim wohnten. Die Ansiedlung in solche Ortschaften scheiterte im Wesentlichen daran, dass zahlreiche Misrachim Handwerker:innen und Kaufleute ohne landwirtschaftliche Erfahrung waren und generell einen niedrigen Bildungsgrad hatten. Abgesehen davon erhielten ihre Kinder im Durchschnitt eine schlechtere Bildung, was die soziale Ungerechtigkeit weiter zuspitzte. Ihre Integration wurde zusätzlich durch die Sprachbarriere erschwert, denn Misrachim benutzten Hebräisch ursprünglich nur als Gebetssprache und sprachen zumeist Arabisch oder Französisch. Auch der arabische Einfluss auf ihre jüdische Kultur stellte eine wesentliche Differenz dar, was sich zum Beispiel in der Misrachit Musik äußert. Dieses Genre galt jahrzehntelang als verpönt und wurde aus allen Radiosendern verbannt. Die ethnischen Spannungen und Diskriminierungen sowie die sozioökonomischen Unterschiede lösten sich jedoch im Laufe der Jahre allmählich auf. Dazu beigetragen hat vor allem die Entwicklung eines generellen Verständnisses dafür, dass sich die Identität Israels aus den verschiedenen ethnischen Hintergründen zusammensetzt. Die kulturellen Unterschiede wurden zunehmend als Bereicherung und weniger als Hindernis wahrgenommen. So gelten das Essen und die Musik der Misrachim vor allem unter den jungen Generationen als sehr beliebt. Auch die Verbreitung von Mischehen, der allgemeine Gebrauch der hebräischen Sprache, der gemeinsame Armeedienst und der zivile Zusammenhalt während der Kriege rückten die ethnischen Unterschiede in den Hintergrund und förderten die Einheit der israelischen Bevölkerung. Dies führte dazu, dass Misrachim inzwischen ein fester Teil des israelischen Establishments sind.
Fortbestehende soziale Ungerechtigkeit
Während es vielen Misrachim gelang, vom Status mittelloser Flüchtlinge in das soziale Gefüge Israels aufzusteigen, gibt es immer noch einige, die unter sozialer Ungerechtigkeit leiden. Dies betrifft vor allem solche, die außerhalb der Ballungszentren in der Peripherie leben. Viele von ihnen beklagen fehlende Chancengleichheit aufgrund schlechterer Schulausbildung und weniger Arbeitsmöglichkeiten. In Teilen der oft aschkenasisch dominierten israelischen Akademie, wie auch in aschkenasichen Synagogen und an Orten, an denen das Aufeinandertreffen von Ashkenasim und Misrachim seltener ist, so auch in Europa, lässt sich vereinzelt immer noch eine herabwürdigende Einstellung gegenüber den Misrachim und ihrer Kultur feststellen. Gerechtigkeit gegenüber den Misrachim muss daher sowohl geschichtlich als auch gesellschaftlich geübt werden. Die Komödie Sallah Shabati veranschaulicht die Aufnahme der Misrachim und ist sehr zu empfehlen.
YOEL ISHAY