Ist die Aliya ein Maßtab für den Antisemitismus in Frankreich?

Ist die Aliya ein Maßtab für den Antisemitismus in Frankreich?

In Frankreich sind die Aliya und die Förderung ihrer Möglichkeit für jüdische und zionistische Aktivist:innen ein wesentlicher Bestandteil der Verteidigung des Zionismus. Dennoch wird die Aliya manchmal fehlinterpretiert. Sie zu verteidigen, bedeutet auch, dafür zu kämpfen, dass sie eine überlegte, informierte Entscheidung bleibt und niemals nur eine durch den französischen Antisemitismus motivierte Flucht darstellt.

Zionismus (m.): Die nationale Bewegung des jüdischen Volkes, die auf die Bildung einer nationalen jüdischen Heimstätte und auf die Selbstbestimmung des jüdischen Volkes im Land Israel abzielt.

Für jeden Juden und jede Jüdin in der Diaspora ist die Definition des Zionismus eine besonders komplizierte Gedankenakrobatik, die man dennoch gerne bei jeder sich bietenden Gelegenheit betreibt. Den Zionismus an sich zu definieren bedeutet, die Vielfalt seiner Facetten, sowie die Vielfalt seiner Auswirkungen zu schätzen. Zionismus bedeutet auch, trotz der faktischen Existenz des Staates Israel, an diesen als eine Hoffnung an ein sicheres und anerkanntes Heimatland zu glauben. Und schließlich endet der Versuch, eine Definition des Zionismus zu finden, mit der Akzeptanz, dass es nicht nur eine Definition dieses Begriffs gibt.

Ebenso gibt es nicht nur eine einzige Definition von Aliya. Die meisten Juden und Jüdinnen in Frankreich, vor allem die Student:innen, denken darüber nach. Weil Israel als Einwanderungsziel oft die Wahl eines Teils unserer Familie, einiger unserer Freund:innen ist. Weil die Entscheidung zur Aliya eine Frage ist, die man sich selbst stellt und der man in bestimmten Lebensabschnitten gerne begegnet. Als jüdischer und zionistischer Aktivist in Frankreich liegt mir die Verteidigung der Aliya am Herzen. Aber nicht unter jeder Bedingung.

„Was wäre, wenn Antisemitismus die Aliya verstärken würde?“

Die Jüdinnen und Juden in Frankreich sind oft vom Antisemitismus gezeichnet, manchmal zu sehr von Angst geprägt. Seit der zweiten Intifada empfehlen Eltern ihren Kindern, ihre Kippa und den Magen David, der ihren Hals schmückt, abzunehmen. Andere entscheiden sich dafür, ihre Kinder nicht mehr an staatlichen Schulen anzumelden. Stattdessen bevorzugen sie Schulen der Jüdischen Gemeinden. Wieder andere entscheiden sich dafür, bestimmte historisch jüdische Arbeiterviertel zu verlassen und in andere, wohlhabende, „sicherere“ Viertel zu ziehen und verzichten dabei auf die große Wohnfläche, die die Pariser Vororte bieten.

Der französische Antisemitismus ist wohlbekannt; Namen wie Mireille Knoll, Yoav Hattab oder Ilan Halimi erwecken in Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt oft traurige Assoziationen. Egal ob einzelne Morde, islamistische Attentate, Beleidigungen auf der Straße oder Mobbing in der Schule – bei jedem Ausbruch dieser Gewalt in unserem Leben erscheint Israel als eine Lösung. Aber nicht als irgendeine Lösung: Israel als Zufluchtsort, als ein „Wir haben keine Wahl mehr“.

Aliya als Indikator für Antisemitismus.

Die Zahlen sprechen für sich. Im Jahr 2012 verzeichnete die Jewish Agency einen Rekord bei den Aliyot, die von knapp 1.900 Aliyot pro Jahr auf über 3.200 anstiegen. Dies kurz nach dem Anschlag auf Ozar Hatorah Toulouse. Nach einer schnellen Rückkehr zur Normalität war am Tag nach der Geiselnahme im Hyper Cacher in Vincennes ein zweiter Höhepunkt zu beobachten. Im Jahr 2015 gingen mehr als 7.000 Jüdinnen und Juden aus Frankreich nach Israel, 2016 waren es nur 4.700. Die Korrelation zwischen der Aliya aus Frankreich und Angriffen auf dessen jüdische Bevölkerung ist schnell hergestellt, einfach, bequem; die Aliya als Flucht nach vorn ist vor der französischen Verwaltung leicht erklärbar. Wenngleich ethnische Statistiken in Frankreich verboten sind, ermöglicht die Aliya all jenen, die Tag für Tag gegen Antisemitismus kämpfen, eine nicht zu ignorierende Realität aufzuzeigen: Das Phänomen, das wir zu bekämpfen versuchen, zu „quantifizieren“, indem wir die Anzahl jener Personen berechnen, die sich entschieden haben, ihm zu entfliehen. Sie ermöglicht es, zu sagen: „Wir lieben Frankreich, aber wenn ihr uns nicht beschützt, werden einige von uns gehen.“ Und ehe man sich versieht, werden die Zahlen der Aliyot zu einem der wichtigsten Faktoren, an denen sich der Antisemitismus in Frankreich messen lässt. Nur kann uns ein solches Phänomen nicht zufriedenstellen.

Für mich, der Tag für Tag gegen den Antisemitismus kämpft, kann die Aliya nicht einfach ein gewöhnlicher Messwert sein. Die Aliya ist ein Lebensprojekt, das weiterhin durch starken Zionismus, durch die Liebe zu Israel, durch den „Aufstieg“ (wortwörtliche Übersetzung von Aliya) begründet ist; für manche muss sie spirituell, für andere politisch motiviert sein. Sie sollte aber niemals eine Entscheidung sein, die durch Verdruss und Angst begründet ist.

Liebhaber Zions und Frankreichs

Jeden Tag kämpfen die UEJF (Union des étudiants juifs de France) und die anderen jüdischen und zionistischen Organisationen in Frankreich dafür, dass die Aliya wieder zu einem Synonym für Hoffnung für diejenigen wird, die sie wollen, und zu einer Erfüllung für diejenigen, die sie gewählt haben.

Jeden Tag kämpfen die UEJF und andere darum, Frankreich wieder zu dem willkommen heißenden Land  zu machen, das es oft für Jüdinnen und Juden war, um das alte französische Sprichwort „glücklich wie ein Jude in Frankreich“ wieder aufleben zu lassen, um „allen die Liebe zu Frankreich wiederzugeben“, wie es in den ersten Statuten der UEJF im Jahr 1944 hieß. Dieses Ziel hinderte die UEJF nicht daran, Zionist:innen der ersten Stunde zu sein. In den 1950er Jahren vergab die UEJF Stipendien an Überlebende des Holocaust, die nach Frankreich zurückkehrten, und versorgte das Schiff „Exodus“ mit Lebensmitteln, um die zionistischen Bestrebungen zu unterstützen. Jüdisch in Frankreich oder Jüdisch in Israel: zwei unterschiedliche Entscheidungen, aber zwei mögliche Realitäten. Den Zionismus zu verteidigen bedeutet, für die Vereinbarkeit dieser beiden Realitäten zu kämpfen.

Es ist unbestreitbar, dass Israel ein Zufluchtsort ist, eine beruhigende Größe im Alltag der Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt. Auch wenn dieser Grundsatz, der weitgehend von Theodor Herzl getragen wurde, nicht zu vernachlässigen ist, müssen wir uns an den Zionismus erinnern, der von der Organisation Hovevevei Tsion, den Liebhaber:innen Zions, propagiert wurde. 1881 von Pinsker ins Leben gerufen wurde sie weitgehend von Denker:innen wie Eliezer Ben Yehuda inspiriert. Diese sahen in Israel eine ideologische, politische und philosophische Rettung. Wir müssen am Prinzip der Selbstermächtigung festhalten, an der Vision eines Zionismus als Selbstbestimmung eines Volkes in seinem ursprünglichen Land, und niemals nur als möglicher Riesenbunker, um vor russischen Pogromen im Jahr 1880 oder französischen islamistischen Anschlägen im Jahr 2020 zu fliehen.

Zionist:in zu sein, durch und durch zionistisch, bedeutet niemals, sich über steigende Aliya-Zahlen zu freuen, wenn sie nur „Flucht“ und „Angst“ bedeuten. Zionist:in zu sein bedeutet für manche, an Pessach „Leschana Haba‘a beJeruschalajim (nächstes Jahr in Jerusalem)“ zu sagen, und für andere, stolz auf eine Start-up-Nation zu sein, die sich ihren Platz inmitten der Nationen mit der Kraft ihrer Ellenbogen erarbeitet. Zionist:in zu sein bedeutet, immer dafür zu kämpfen, dass die Aliya eine Wahl ist. Zionist:in zu sein bedeutet, diesen Kampf mit einem Lächeln auf den Lippen und niemals mit Angst im Bauch zu tragen. Das ist unsere tägliche Herausforderung.

Samuel Lejoyeux

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