Überfragt
Als meine Familie aus Charkiv nach Deutschland eingewandert war, fiel es insbesondere meinem Vater schwer, die Sprache der Täter:innen zu hören und später dann zu erlernen. Doch was, wenn die Verantwortlichen des neuen Angriffskrieges gegen die Ukraine dieselbe Sprache sprechen wie die Überfallenen? Wie muss es sich anfühlen, die Worte zu verstehen, wonach der Grund für die zweite Flucht im eigenen Leben die angebliche Entnazifizierung der Heimat ist? Wenn du bereits die Schoa überlebt hast, in deine neue Heimat, die Ukraine, geflohen bist, ein neues Leben aufgebaut hast und nun ein zweites Mal gezwungen bist, deine vertrauten vier Wände und deine Liebsten zu verlassen? Als wäre das nicht genug, verschlägt es dich nun ausgerechnet in das Land, welches für die erste Flucht verantwortlich ist.
Diese doppelte Fluchterfahrung prägt vor allem die Schicksale derjenigen Shoa-Überlebenden, die aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 fliehen mussten und nun Schutz und Sicherheit in Deutschland gefunden haben.
Einzige Gewissheit
Eins ist klar: Der aktuelle Krieg ist absurd. Wie jeder andere Krieg ebenfalls. Die Paradoxie der vermeintlichen Begründung des Angriffskrieges verstärkt einzig den bitteren Beigeschmack des politischen Wahnsinns. Wie der deutsche Bundespräsident Steinmeier betonte, „stellt die Begründung für den Überfall einen wirklich bösartigen Zynismus dar und das Schicksal der betroffenen Schoa-Überlebenden die Entlarvung dessen“. Jedes einzelne Schicksal, welches durch den Krieg geformt wird, ist eins zu viel. Doch hat dies insbesondere im Falle von Schoa-Überlebenden eine ganz spezielle Tragik. Dabei ist die Stärke dieser Menschen unübersehbar. So auch bei Maria Rota aus Donezk. Die 83-Jährige Roma überlebte als Kind ein KZ. Da ihre Eltern nie über diese schreckliche Zeit sprachen, weiß sie nicht, welches. Nun sind ihre Tochter und dessen drei Kinder gemeinsam nach Deutschland geflohen. Um zwei ihrer Söhne bangt sie immer noch in der Ukraine. Doch trotz aller Schicksalsschläge in ihrem Leben verspürt Maria tiefe Dankbarkeit für das Essen, das Bett und die freundlichen Gesichter in Deutschland. Nun will sie ein neues Leben hier aufbauen und alle Kriege hinter sich lassen. Denn für eins ist man nie zu alt – Glück.
Spannungsverhältnis
Die Tatsache, dass ausgerechnet Deutschland das Land ist, welches die Rettung für das eigene Leben bringt, liegt im Spannungsverhältnis zwischen Wiedergutmachung, Verantwortung, Mindestanforderung und Dankbarkeit. Es lässt sich nicht nachempfinden, in welche emotionale Lage das wiederholte Erleben von Krieg und obendrein das Fliehen in das Täterland der ersten Flucht Menschen versetzt. Und so reiht sich dieses Komplexitätsbündel an Assoziationen in die Kontinuität jüdischer Lebensrealitäten ein. Denn wenn es die Zeit überhaupt zulässt, spiegelt sich diese Realität darin wider, im Laufe des gesamten Lebens aus gepackten Koffern zu leben. Dieser Umstand begleitet viele jüdische Menschen ein Leben lang.
F(eind)reundschaft
Ein Krieg stellt leider auf perverseste Art und Weise auf die Probe, wer Freund und wer Feind ist. Wie und ob deine Nachbar:innen tatsächlich zu dir stehen. Erste Schritte leitet Deutschland gerne ein, doch liegt es in der historischen Verantwortung Deutschlands, nachhaltig auf verschiedensten Ebenen allen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen, humane Bedingungen zu ermöglichen.
MASCHA DISMAN