Gedächtnistheater -und nun?

Gedächtnistheater -und nun?

Wenn wir eine dezidiert junge deutsch-jüdische Perspektive einnehmen, dann bestimmen seit gut sieben Jahren mehrere Annahmen den erinnerungspolitischen Diskurs: (1) Die Dritte Generation in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden stellen eine diverse Community dar, die (2) größtenteils postsowjetisch geprägt ist und (3) sich nicht im erinnerungspolitischen Diskurs repräsentiert sieht.

Spätestens seit Desintegriert Euch von Max Czollek, wird in diesem jungen jüdischen Diskurs und darüber hinaus oft vom Konzept des „Gedächtnistheathers“ gesprochen, welches vom Soziologen Michal Bodemann geprägt wurde. In diesem Text soll es sowohl um die Konzeption als auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der Rezeption dieses Begriffs “Gedächtnistheater” gehen.

Gemeinsam mit dem bereits erwähnten Bewusstsein für eine neue jüdische Vielfalt, hat auch junger jüdischer politischer Aktivismus im letzten Jahrzehnt eine Renaissance erlebt.  Diese wurde unter anderem durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, dem Begabtenförderwerk der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, losgetreten und wird nicht zuletzt auch durch die EUJS, JÖH und JSUD, aber auch Initiativen wie Keshet, regionale Studierendenverbände und natürlich auch den NOODNIK, abgebildet.

Czolleks Buch resoniert bei mir und wohl auch bei vielen jungen jüdischen Stimmen bis heute, weil unglaublich gekonnt eine Lebensrealität beschrieben wird, in der wir uns alle wiederfinden: Besucher:innengruppen in der Jüdischen Oberschule Berlin, das Vorsingen jüdischer Achtklässler:innen am Neunten November auf der Putlitzbrücke (wir wurden damals hierfür mit Kleingeld beschmissen), Begegnungen z.B. bei Thementagen in Schulen, wo zunächst Klezmer gespielt, in Lesungen der Holocaust szenisch abgebildet wird und schließlich lebende Jüdinnen und Juden in einem vorbestimmten Raum eine dezidierte Rolle füllen müssen. Während meinen Synagogenführungen entschuldigten sich Menschen weinend bei mir für den Holocaust, um mich kurz danach wissen zu lassen, dass „Ihr heute den Palästinenser:innen das gleiche antut”.

In diesen Situationen wünschte ich mir oft die Blickwinkelkanone, aus Per Anhalter durch die Galaxis, die statt tödlichen Schüssen Empathiefähigkeit und Verständnis für gegenläufige Perspektiven verschießt. Abseits antisemitischer Konnotationen passt diese aufgetragene Rolle nur selten zum eigenen, oft atheistischen, orthopraktischen oder diversen Selbstverständnis, und auch nicht unbedingt zur jüdischen Realität. Gründe hierfür sind die benannte Vielfalt jüdischen Lebens durch demografischen Wandel und Migration, der Wille durch Empowerment eigene Positionen herausarbeiten zu dürfen und die manchmal gefühlte performative Natur solcher Begegnungen.

Auf der anderen Seite erleben wir, dass uns Rollen angeboten werden, die ein erinnerungspolitisches Narrativ vorheriger Generationen bedient. Staaten wie Österreich oder Deutschland brauchen diese Rollen, um die eigene Geschichte historisieren, objektivieren und externalisieren zu können. Im Fokus stehen dabei Ritualisierung, Fremdzuschreibung und die Funktionalisierung von Erinnerung. Aber auch von jüdischer Seite haben die Pluralisierungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte noch nicht zu einem grundlegenden Umdenken in Bezug auf Erinnerungsarbeit geführt. Doch genau diese Neuverhandlung zeichnet sich derzeit innerjüdisch ab, was nicht zuletzt Czolleks Desintegriert euch! markiert.

Czollek hat bewusst die Form einer Polemik gewählt. Er fand dabei einen Ausdruck, nicht nur für ein neues Nachdenken über Erinnerung, sondern auch für die emotionalen Affekte, die mit diesem Nachdenken verbunden sind, wie sie auch in dem Film Mazel Tov Cocktail von Arkadij Khaet aufgegriffen werden. Khaet erweiterte Czolleks Position pointiert um die postsowjetische Sichtweise. Diesen Effekt kann ich auch in meiner aktivistischen Arbeit direkt wahrnehmen: Nach dem Film und dem Buch sind plötzlich so viele Dinge leichter kommunizierbar! Die absurden Erlebnisse als „Zoo-Jew“ während der Synagogenführungen in Hamburg, während Vorträgen oder in Begegnungen mit politischen Würdenträger:innen, kann ich mit Verweis auf diese Werke plötzlich greifbar machen. Beiden bin ich daher für Ihre Arbeit dankbar und sehe sie zugleich als Denkbewegung einer jüngeren Generation jüdischer Intellektueller, Künstler:innen und Aktivist:innen. Dieser Generation geht es keinesfalls darum, vorherigen Formen des Erinnerns die Berechtigung abzusprechen, sondern vielmehr um die Formulierung eines eigenen Zugangs.

Zugleich möchte ich einen Appell aussprechen, diese Gedanken in ihrer Komplexität nachzuvollziehen und behutsam einzuordnen: Was genau sagen uns Khaets und Czolleks Arbeiten zum Gedächtnistheater für einen jüdischen Aktivismus? (Dabei werde ich nicht weiter auf Sichtweisen der Mehrheitsgesellschaft eingehen – das überlasse ich, ganz im Sinne der Desintegration, ihr selbst). Entlang der Reibungsfläche zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Perspektiven wünsche ich mir manchmal ein wenig mehr Bewusstsein für die Widersprüchlichkeit der Praxis, manchmal vielleicht auch Empathie. Mag die künstlerische Form hier gekonnt einen Realzustand abbilden, möchte ich zugleich mit Czollek unterstreichen, dass eine Polemik kein Policy-Paper ist – dass also die Wut, die Ironie, die Abgrenzung und die Gegenüberstellung keine Handlungsanweisung ist, sondern eine Intervention in die kontemporäre Erinnerungspolitik darstellt. Anders gesagt: Es reicht nicht, die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft richtig zu beschreiben oder witzig zu kritisieren. Politische Arbeit sollte darüber hinaus die Frage stellen, wie hiermit umzugehen ist, welche Kommunikationsformen und -arten die richtigen Mittel darstellen, um den Weg zu einer besseren Gesellschaft zu ebnen. 

Zunächst ist es wichtig, in diesem Kontext zu erwähnen, dass Czollek ritualisiertes Gedenken nicht per se ablehnt, im Gegenteil: Ihm geht es um eine Befragung des Skripts des Dramas, was im Gedächtnistheater aufgeführt wird. Wer wird adressiert? Welche Rollen sind dabei verfügbar? Wie könnte ein jüdisches Gedenken jenseits eines deutschen Begehrens nach Wiedergutwerdung aussehen? Hier richtet sich Desintegriert Euch! explizit auch an jüdischen Aktivismus: Wird nicht auch noch in der pointierten Kritik ein ganz eigenes Theater gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gespielt?

Dasselbe gilt für die popkulturelle Darstellung jüdischer Widerständigkeit. Kein Lied hat mir mehr Freude bereitet als NoFXs the Brews, ich liebe Daniel Kahns Arbeit, Tarantino hat mit seinem 30 Sekunden-Close Up auf den sterbenden Hitler viel bei mir ausgelöst, aber hierbei handelt es sich um Kunst. Jüdischen Widerstand hat es gegeben, gibt es heute, nur grenzt es an historische Verzerrung, diese durch romantisierte Darstellungen von z.B. Hershel Grynspan in politischen Vorträgen übermäßig darzustellen. Die wohl am häufigsten durchgeführte Peulah stellt das Schicksal des Ghetto Lodz und des Warschauer Ghettos gegenüber, um letztlich die Aussichtslosigkeit der Ermordeten greifbar zu machen. Überlebt haben dort mehr, wo man sich entschied, keine Waffen in die Hand zu nehmen – die eigentliche Perfidität der völligen Entmenschlichung. Der Eichmann-Prozess stellte in der israelischen Geschichte auch deshalb eine historische Zäsur dar, weil zuvor der unermessliche Schmerz mit der Glorifizierung der wenigen Widerständigen gestillt wurde. Es war wenig Platz für die Zeugnisse des Schreckens. Zur bitteren Wahrheit gehört mein berechtigtes Interesse, das Leid in der eigenen Familie durch popkulturelle Rache- oder Widerstandsfantasien erträglicher zu machen, was nichts daran ändert, dass unsere Vorfahren in einem nicht fassbaren Ausmaß Opfer eines Zivilisationsbruchs wurden. Sie waren nicht alle im Widerstand und es gab auch keine Möglichkeit Rache zu nehmen, weil sechs Millionen Jüdinnen und Juden, 1,5 Millionen Sinti:zze und Rom:nja, politisch Verfolgte, Homosexuelle und viele mehr vernichtet wurden. Die von Czollek mitkuratierte Racheausstellung, die derzeit im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main zu sehen ist, ist mehr als empfehlenswert, weil sie eine Figuration von Jüdischkeit beschreibt, die im Rahmen des Gedächtnistheaters nicht auftauchen kann. Sie aber ungefiltert in den Aktivismus zu übersetzen, finde ich fraglich: Theaterarbeit, Essays, Filme und Ausstellungen sind keine Policy Papers.

Besonders spannend finde ich übrigens, wie insbesondere konservative Stimmen sich dieser dezidiert linken Perspektive immer weiter bedienen, indem sie zwar die Sprache übernehmen, aber etwas völlig Anderes damit meinen. Wer allerdings die Sichtweise der beiden Autoren teilt, sollte sich weiterhin fragen, was im jeweils eigenen Kontext die richtigen Kommunikationsmittel wären. Denn hier geht es nicht darum, einfach nur eine laute Stimme zu haben. Vor allem sollte man sicherstellen, dass man den Kern der Aussage, auf die man sich bezieht, auch wirklich verstanden hat. Nicht die Ritualisierung als solches wird abgelehnt, sondern die Form. Wem die bestehenden Rituale also keinen Raum zum Gedenken geben, der ist dazu animiert, eigene Formen des Erinnerns zu finden. Und vielleicht ist die Kunst von Khaet und Czollek bereits eine solche andere Form.

„Im Gedächtnistheater hatten Menschen, denen weder ein Platz in der Gesellschaft noch ein Raum zur Trauer zugesprochen wurde, wenigstens einen Raum“ wurde mir jüngst in einem Gespräch von einer aktiven Stimme aus dem JALTA-Kollektiv mitgegeben. Und auch sie hat Recht. Man muss also auch anerkennend feststellen, dass jede Generation der Erinnerung und der Interpretation ein anderes Gesicht zuwendet, und nun zeigt sich, welche Konturen dieses Gesicht hat.

Die Stärke der Kunst und der Polemik ist das pointierte Nachzeichnen gesellschaftlicher Reibungsfläche, aber ihre aktivistische Übersetzung verträgt vielleicht nicht immer ihren ungefilterten Ton. Im politischen Raum ist der Begriff des Gedächtnistheaters aber vielleicht nicht immer angebracht, wenn Erinnerung Raum einnimmt, selbst wenn – und das sage ich aus persönlicher, leidvoller Erfahrung –, Reden am 9. November, am 27. Januar und beim Jüdischen Filmfestival oder der Eröffnung neuer Synagogen irgendwie gleich klingen.  

Wer die Sichtweisen Czolleks, Khaets oder des JALTA-Kollektivs teilt – und die Liste solch wichtiger Stimmen ließe sich fortführen –, der:die sollte von ihnen lernen und in einem zweiten Schritt politische Strategien entwickeln. Vielleicht lohnt es sich dabei erstmal einen Buch- oder Filmclub zu gründen, anstatt ihre sehr originelle Erzählweise unübersetzt zum politischen Mantra einer Studierendenbewegung zu machen.

Erinnerungskultur ist politisch, Erinnerungskultur ist dynamisch. Dabei geht es auch um Sichtbarmachung, Stärkung und Anerkennung und dies in einer Gesellschaft, die von radikaler Vielfalt geprägt ist. Diese Anerkennung bestehender Pluralität führt nicht zwingend zum Nullsummenspiel, wie oft in der postkolonialen Debatte suggeriert wird.

Auf diesen Grundannahmen fußt die CPPD – Coalition for Pluaristic Public Discourse, eine Initiative, die im Mai 2021 ihr Arbeit aufgenommen hat, um einen Raum für junge Intellektuelle, Künstler:innen und Wissenschaftler:innen zum Austausch über und Formulieren von Strategien und Visionen für pluralistisches Erinnern zu entwickeln. Unter der wissenschaftlich-künstlerischen Leitung von eben jenem Dr. Max Czollek und der Gesamtleitung von Jo Frank und Johanna Korneli (Dialogperspektiven) erarbeitet die CPPD künstlerische, zivilgesellschaftliche, bildungspolitische und didaktische Konzepte und Ideen für die Pluralisierung europäischer Erinnerungskulturen, die sowohl den pluralen Gesellschaften Europas Rechnung tragen, als auch neue Erkenntnisse über europäische Gewaltgeschichte berücksichtigen sollen – für einen langfristigen Paradigmenwechsel in der europäischen Erinnerungskultur.

Dabei wird bewusst ein Raum geschaffen, um ebendiese Übersetzungsleistung zu tätigen. Ich würde mir wünschen, dass mehr solcher politischen Räume geschaffen werden, um Erinnerungskultur neu zu denken und, dass die Ergebnisse unserer Arbeit in der CPPD auch in aktivistischen Kreisen Anklang finden. Dies gilt besonders für den (jüdischen) Studierendenaktivismus. Es reicht bereits, den Autor:innen selbst – und diese Linie lässt sich sogar von NoFX bis Czollek und Khaet ziehen – richtig zuzuhören.

BENNY FISCHER
Mit besonderem Dank an Max, Arkadij, Steffen und Leah

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