Die Koffer stehen bereit
Am 23. August 2012 erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter, ich hatte 2 Stunden Zeit, einen Handgepäckskoffer zu packen und auszuwandern. Genauer gesagt, Aliya zu machen, also nach Israel zu gehen. Die Pessach Haggadah erzählt: „Bejad chasaka uwisroa netuja“ – mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, und nicht mal Zeit, Brot zu backen. So lernen wir in unserem Volk seit Jahrtausenden sehr früh, dass eine schnelle Flucht eine Lebensnotwendigkeit ist. An jenem Tag habe ich erstmals verstanden, was es heißt, auf gepackten Koffern zu sitzen. Ich hatte es verhältnismäßig leicht. Ich war nicht auf der Flucht, musste manches nur auf Zeit zurücklassen und ich konnte jederzeit auf Besuch kommen. Weder mein Leben noch das meiner Lieben war bedroht. In der Vergangenheit haben wir jedoch viel zu oft erfahren, was es heißt, fliehen zu müssen. Und ich freue mich, dass diese Geschichten in dieser Ausgabe Platz finden.
“Heimat”? Was bedeutet das? Ich denke, dass alle Jüdinnen und Juden, die heute in Europa leben und deren Familien in den letzten hundert Jahren wahrscheinlich sogar mehrmals fliehen mussten, ein ambivalentes Verhältnis zum Begriff Heimat haben. Oft werden wir in Israel oder den USA gefragt, wie wir überhaupt in einem Land leben können, in dem die Nachfahren jener Menschen leben, die unsere Vorfahren ermordet haben. Doch wir leben nicht nur hier: Viele von uns definieren sich ganz bewusst als österreichische Jüdinnen und Juden. Wir haben also einen starken Bezug zu Österreich. Dennoch fühlt es sich für mich nicht richtig an, Österreich als meine Heimat zu definieren; allein schon deshalb, weil auch meine Eltern das nicht tun. Aber auch, weil der österreichische Staat in vielen Aspekten höchst problematisch ist – generell und gerade auch aus jüdischer Perspektive. Die Liebe zu deiner Heimat ist also ein kompliziertes Gefühl. Viele Menschen, die flüchten mussten, empfinden dennoch eine Verbundenheit zum Land ihrer Herkunft.
Die Schoa liegt fast 80 Jahre zurück. Und dennoch denken wir einfach immer daran, bereit zu sein. Bereit, alles hinter uns zu lassen, unsere Familie zu schnappen und neu anzufangen. Denn das Fortbestehen des jüdischen Volkes ist der Auftrag, den jede:r von uns von klein auf von der Religion und den Geschichten unserer Vorfahren vorgelebt und erzählt bekommen hat.
„Leben ist Widerstand“ und Widerstand ist ein essentieller Teil des Lebens. “Nie wieder” ist ein Auftrag. Koffer zu packen ist deshalb nur eine kleine Übung, um diesen Auftrag nicht zu vergessen.
NOAH SCHEER