Von Kosmopoliten und ewigen Juden
Babylon, Reconquista, Wiener Gesera, Pogrome in Russland und Schoa – jüdische Kulturgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Verfolgung, sie ist auch eine Geschichte der Resilienz und des Standhaltens. Sie ist außerdem eine Geschichte der Migration.
Hannah Arendt schrieb 1941 den viel rezipierten Satz „Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher“. Dabei bin ich mir jedoch sicher, dass Theodor Herzl ihr widersprechen würde. In seinem Werk „Der Judenstaat“ führte er an: „Wir ziehen natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die Verfolgung.“ Wo auch immer jüdische Menschen sind, bringen sie Judenhass und Antisemitismus mit. Diese Aussagen Herzls sind überspitzt, dem Pathos des Zeitgeists geschuldet. Jüdinnen und Juden ist nicht die Schuld an den Feindseligkeiten ihnen gegenüber zu geben, auch nicht der jüdischen Immigration. Der Antisemitismus braucht nicht einmal tatsächliche Jüdinnen und Juden, um sie zu hassen. Der Stammtisch braucht keine:n Jüdin oder Juden am Kopf des Tisches, um ihn zu verschmähen. Der Antisemitismus ist omnipräsent, so wie für Antisemit:innen Jüdinnen und Juden omnipräsent sind. Judenhass kann verschiedenste Formen annehmen und doch zieht er sich durch alle Kulturen, auch wenn viele Ausprägungen in der westlichen Welt nicht bekannt sind. So wird zum Beispiel den äthiopischen Jüdinnen und Juden vorgeworfen, sie würden sich in Hyänen verwandeln. Aber zurück zum Mond. Würde eine jüdische Auswanderungswelle auf den Mond bedeuten, dass es plötzlich Antisemitismus am Mond gäbe? Hätten wir es dann mit „out of space antisemitism“ zu tun? Und was dann? Vom Mond flüchten und den Saturn besiedeln? Bitte nicht.
Lutherianische Auswucherungen
Hier ein kurzer Exkurs zu einem meiner Erzfeinde: Ja, richtig. Martin Luther. Martin Luther ist spannend – historisch betrachtet. Anfangs war er noch davon begeistert, Jüdinnen und Juden konvertieren zu können. Als er begriff, dass sie nicht parieren wollen, schrieb er 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“. Bemerkenswert dabei ist, auch wenn die These umstritten ist, dass er darin die Grenzen zwischen Antijudaismus und Antisemitismus aufhebt. Antijudaismus richtet sich gegen Jüdinnen und Juden als Religion, Antisemitismus ist Hass gegenüber Jüdinnen und Juden als sozialdarwinistisch konstruierte „Rasse“. Beim Antijudaismus geht es mehr darum, woran Jüdinnen und Juden glauben und was sie den Christ:innen mit diesem Glauben antun und antaten. Das reicht von Hostienfrevel bis hin zur rituellen Ermordung christlicher Kinder und auch Mord an Christus selbst. Martin Luther hebt sich von diesen Argumentationen stark ab. Er naturalisiert die jüdische Religion. Damit attestiert er Jüdinnen und Juden einen ihnen zugrundeliegenden und nicht änderbaren Charakter. Er bezeichnet sie als parasitär für alle Länder, in denen sie leben, und eine Untreue diesen Ländern gegenüber wird ihnen ebenso unterstellt wie der Bund mit dem Teufel, sowie dem Feind, „den Türken“, und dass sie die Bibel absichtlich falsch interpretieren, um die Christenheit in die Irre zu führen. Und warum? So sind die halt. Luther ist aber gewieft und hat eine Lösung parat. Er fordert dazu auf, Jüdinnen und Juden den Geldhandel zu verbieten, jeden jüdischen Besitz niederzubrennen, die Torarollen zu begraben und sie ein- für allemal zu vertreiben. Bis auf die jungen und kräftigen Jüdinnen und Juden, die können nämlich zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Ich hoffe, der:die Leser:in hat mittlerweile meine Aversion gegenüber Martin Luther verstanden und kann meine persönliche, literarische Vendetta nachvollziehen. So gerne ich Luther vergessen würde, es lohnt sich, bei ihm besonders gut hinzusehen. Es findet sich in seiner Schrift eine Naturalisierung von Jüdinnen und Juden, die für die Zeit bemerkenswert ist und die man eher im modernen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts verortet. Dabei wird eines schnell klar: Luther sieht Jüdinnen und Juden nicht als Bürger:innen der deutschsprachigen Regionen an, sondern als ein parasitäres Wandervolk, das nirgendwo dazugehört und überall, wohin es auch geht, Schaden für die dort lebende, autochthone Bevölkerung bringt.
Und am Ende ist der Jude nicht von da
Das Stereotyp des ewigen Juden, nirgendwo daheim, immer umherziehend und nie lange bleibend. Der Jude ist nirgendwo daheim. Der Jude kann nur wandern. Dieses judenfeindliche Stereotyp findet man immer wieder. Dass dieses Umherziehen meistens den Ressentiments der Bevölkerung und der Herrschenden entspricht, welche immer wieder in Pogromen, Verfolgung und Vertreibung resultieren, wird im antisemitischen Diskurs gerne außen vor gelassen. Es ist ein Muster, das sich wiederholt und welches wir in fast allen Kulturen, welche mit dem Judentum in Berührung kamen, wiederfinden. Jüdinnen und Juden kommen in der Hoffnung zu bleiben und viel zu oft wurde diese Hoffnung negiert. Der „wandernde Jude“ ist kein naturgegebenes Gesetz, wie Luther sich anmaßt zu behaupten. Es wurde kreiert. Nicht nur von fremden Mächten, sondern auch von Nachbar:innen und denjenigen, mit denen er über Generationen hinweg, manchmal länger, manchmal kürzer, zusammenlebte. Umso perverser ist es, dass genau dies Jüdinnen und Juden vorgeworfen wird, um sie noch mehr als das Andere, das Exkludierte in der Mehrheitsgesellschaft zu konstituieren. Der:die aufmerksame Leser:in hat mittlerweile vermutlich wahrgenommen, dass ich Jüdinnen und Juden teilweise gendere und dann wiederum nur von „dem Juden“ spreche. Bei ersterer Formulierung sind echte Menschen gemeint, wie sie existieren und existiert haben. Bei Letzterem meine ich „den Juden“ als Projektionsfläche des Hasses gegenüber Jüdinnen und Juden, als ein krudes, verzerrtes Bild, in welchem sich alle Vorurteile, auch wenn sie teilweise widersprüchlich sind und einander negieren, sammeln, fusionieren und ein Monster erschaffen, welches in den Köpfen der Antisemit:innen herumspukt, sie heimsucht und nicht loslassen kann. Jetzt, nachdem wir das geklärt haben, zurück zum inhaltlichen Teil.
Als Beispiel für „den wandernden Juden“ dient die Sowjetunion. Eine antisemitische Argumentationsstruktur, die genutzt wurde, um Pogrome und antijüdische Politik zu rechtfertigen, war die des Juden als Kosmopoliten. In heutiger Zeit eher positiv konnotiert und als etwas Erstrebenswertes, mit dem viel kulturelles Kapital einhergeht, dargestellt, war es in der Sowjetunion ein Jüdinnen und Juden betreffendes Unwort. Um es in all seiner Absurdität abzuhandeln und auseinanderzunehmen, hier ein kurzer historischer Umriss – auch auf die Gefahr hin, verkürzt zu sein: Viele Jüdinnen und Juden schlossen sich um die Jahrhundertwende sozialistischen und kommunistischen Bewegungen an. Zu diesem Thema gab es im jüdischen Museum in der Dorotheergasse eine Ausstellung. Die Beweggründe waren vielschichtig, einerseits aus einer Notwendigkeit heraus, da sich ein jüdisches Proletariat herausgebildet hat, andere schlossen sich aus ideologischer Überzeugung an und wieder andere, weil sie im Sozialismus ein Heilmittel gegen den Nationalismus sahen. Die Herausbildung von Staaten ging immer mit reaktionären Überlegungen von „Nah, wer g’hört denn jetzt eigentlich zu uns?“ einher. Die Antwort, die jetzt folgt, wird vermutlich kein Spoiler sein: jüdische Menschen waren im „uns“ selten inkludiert. Der wandernde Jude, vollkommen heimatlos, diente als perfektes Feindbild. Ohne sie kein uns, kein europäischer Staat ohne Antisemitismus. So wurden aus so manchen Jüdinnen und Juden Genossinnen und Genossen. Jüdische Menschen sind de facto nicht aus der Geschichte der sozialistischen Bewegungen und Kämpfe wegzudenken. Dann war da die Sowjetunion. Da hat es ja ein bisschen mit der befreiten Gesellschaft gehapert und deswegen gab es auch dort Antisemitismus. Darum auch der Jude als Kosmopolit. Dieser kann in seiner Quintessenz nicht nur einem Land treu bleiben, ist überall daheim und kokettiert daher in den Augen der Kommunistischen Partei zu sehr mit dem Westen. Also ein Verräter der Revolution, der bestraft und sanktioniert gehört. Und an antisemitischen Politiken und Verfolgungen hat es in der Sowjetunion nicht gemangelt.
Dieses Beispiel zeigt meiner Meinung nach gut, wie die Vertreibung und „Zerstreutheit in aller Welt“ von Jüdinnen und Juden gegen sie verwendet wurde. Um es in Jugendsprache zu formulieren: Das ist historisiertes victim blaming, auch ein bisschen gaslighting. Dennoch würde ich gerne noch etwas hinzufügen: Wir müssen uns der Geschichte der Verfolgung und den daraus resultierenden antisemitischen Argumentationsstrukturen bewusst sein. Jedoch dürfen wir nicht Gefahr laufen, die gesamte jüdische Kulturgeschichte als eine Geschichte der Verfolgung zu verstehen. Ja, sie ist ein integraler Bestandteil. Aber es gab immer wieder Orte und Zeiträume, in denen Jüdinnen und Juden gemeinsam mit ihren nicht-jüdischen Nachbarn zusammenlebten und in denen jüdisches Leben florierte, wenn es auch des Öfteren erneut zerstört wurde. Der Diaspora haben wir dennoch die verschiedensten jüdischen Traditionen und Kulturen zu verdanken, die jüdisches Leben vervielfältigen und bereichern. Auch wenn es manchmal ein bisschen Zwist untereinander gibt.
Am Israel Chai? Ja, aber wo?
Dieser Artikel soll damit enden, womit er angefangen hat: Herzl. Herzl glaubte fest daran, dass ein jüdischer Staat den Antisemitismus und somit auch die Verfolgung beenden würde. Wir wissen, dass dies nicht der Fall war. Die Geschichte hat gezeigt, dass es die Raison d’être eines jüdischen Staates sein muss, für Jüdinnen und Juden ein sicherer Hafen zu sein. Ein letzter Zufluchtsort, wenn es für Jüdinnen und Juden anderswo gefährlich wird. Das ist Israel. Israel, Israel, Israel. Glorifiziert, dämonisiert und selten als reale staatliche Entität gesehen. Ich würde gerne, und das erlaube ich mir jetzt, einen Schritt zurück machen. Israel ist unumstritten der einzige sichere Staat für Jüdinnen und Juden, in dem nicht zu befürchten ist, dass diese einer staatlichen und institutionellen Verfolgung innerhalb ausgesetzt sind. Das ist ein realpolitischer Fakt. Dass es einen jüdischen Staat braucht, hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, auch in der jüngeren. Man erinnere sich an den französischen Exodus im Jahr 2015. Französische Jüdinnen und Juden sind en masse nach Israel immigriert, weil sie sich in Frankreich nicht mehr sicher fühlten. Ich möchte es realpolitisch halten, nicht in Ideen von Heimat abdriften. Heimat, per se, ist ein deutschsprachiges Konstrukt und ein leidiges Wort. Heimat, ein Zustand, gebunden an einen Ort und eine Zeit in der Vergangenheit, die Kindheit, der nicht mehr erreicht werden kann. Heimat macht man sich, Heimat ist nicht gegeben. Der jüdische Staat muss trotzdem eine Form der Heimat bereitstellen, er muss die Verfolgten und die Vertriebenen aufnehmen, er muss sie zur Ruhe kommen lassen. Diese Ruhe und dieser Frieden sind in Israel nicht immer gewährleistet. Es muss auch dort darauf hingearbeitet werden. Jerusalem ist dennoch näher als der Mond.
CHRIS STEINBERGER