Alles und nichts?
Dieser Text ist für all diejenigen, die sich ihr Jüdisch- Sein erkämpfen mussten. Für die, die außerhalb einer jüdischen Gemeinde groß wurden. Am Land und in den Städten, in denen es keine anderen Juden mehr gibt. Für die, die zu der Religion und Kultur ihrer Vorfahr:innen zurückgekehrt sind. Für die, die nie jüdisch genug waren. Zu assimiliert, zu aufbegehrend, zu queer, zu un-halachisch. Für die, die trotz alldem hier sind und zwar so hier sind, wie sie sind.
Erbe ist ein aufgeladener Begriff. Immer wieder schlagen sich Linke und Rechte medial, in den politischen Institutionen und auf Familienfeiern die Schädel ein, ob Erbe nun besteuert gehört oder nicht. Zuletzt entflammte die Debatte wegen der Österreicherin Marlene Engelhorn. Einer Millionenerbin. Und dann ist sie auch noch so frech und spendet 90 Prozent ihrer Erbschaft. Einfach weil sie findet, dass sie dafür nichts geleistet hat. Dass ihr dieses Vermögen deshalb gar nicht zusteht. Dass es ungerecht ist, dass wenige viel haben und viele wenig. Und dann beschwert sie sich auch noch, dass sie überhaupt die Macht hat, so viel Geld herzugeben, dass es nicht der Staat für sie übernimmt. Die Rechten sind empört, denn sie kann nur eine undankbare Göre sein, die das, was ihre Familie aufgebaut hat beim Fenster rausschmeißt. Die Linken applaudieren ihr, weil es schließlich um soziale Gerechtigkeit geht.
Man kann jetzt einmal durchschnaufen, denn zum Glück geht es in dieser Ausgabe nur um kulturelles Erbe. Wir können uns jetzt entspannt zurücklehnen und uns freuen, dass wir das alles apolitisch halten können. Oder?
Am Anfang war die Problematisierung
Das Stilmittel der rhetorischen Frage lässt vermutlich darauf schließen, dass dem keinesfalls so ist. „Umsonst ist nur der Tod, und der kostet das Leben“ wird in Wien gerne gesagt und es ist davon auszugehen, dass schon irgendein:e Anthropolog:in dies darauf zurückgeführt hat, dass Wiener:innen eine morbide Obsession mit allem, was mit Sterben und Verwesung zu tun hat, als kulturelles Erbe mitbekommen haben. Schön, gell? Aber was ist denn nun der Preis? Kulturelles Erbe bekommt man mit. Leider handelt es sich dabei nicht um eine nette, fette Geldsumme, mit der hantiert werden kann, sondern es kommt mit Verantwortung und Verpflichtungen. Es zu erhalten, es weiterzugeben. Wie ein Fluss von Generation zu Generation soll es fließen. Kann man machen, muss man aber nicht. Wenn man dies nicht tut, ist davon auszugehen, dass es soziale Sanktionen geben wird. Verstoßung und Ächtung drohen im schlimmsten Fall. Kulturelles Erbe zwecks Identitätsstiftung geht auch damit einher, dass es statisch ist. Dass die, die es reformieren wollen, als solche angesehen werden, welche die ganze Identität damit über Bord werfen wollen. Identität kann somit eine Bürde sein. Viele haben oft das Gefühl, sie müssten sich entscheiden. Ausleben aller Aspekte der Kultur oder dem ganzen Widersagen. Es gibt selten einen goldenen Mittelweg. Sollte dieser aber für jemanden persönlich gefunden worden sein, bedeutet dies nicht, dass die Person keinen Anfeindungen innerhalb der eigenen Gemeinschaft ausgesetzt wird. Oder, dass Assimilation eine Garantie dafür ist, dass man dadurch von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert und aufgenommen wird.
Genervt, genervter, säkulare jüdische Person, die erklären muss, warum sie atheistisch dennoch jüdisch ist. Die erklären muss, warum sie trotzdem an religiösen Festen teilnimmt, trotzdem Shabbat einhält.
Es wird kompliziert, wenn die Kultur an Religion gebunden ist, von historischer und gegenwärtiger Verfolgung geprägt ist und verschiedenen Formen von Diskriminierung ausgesetzt ist. Einem Hass, der sich nicht nur gegen die Praxis der Kultur und des Glaubens dieser Personen richtet, sondern auch die Abstammung einschließt. Wie Georg von Schönerer einst sagte: „Die Religion ist einerlei, im Blute liegt die Schweinerei“. Ein Mantra, das sich bis heute im Antisemitismus festgesetzt hat. All diese Aspekte fließen mit ein, wenn sich jüdische Identität formiert. Manche sehen in der Religion einen unabdingbaren Teil ihrer Identität, andere lassen ihn außen vor. Und jede Entscheidung hat ihre Berechtigung. Nicht zu vergessen ist dennoch, dass die Halacha eine klare Vorstellung davon hat, wer jüdisch ist und wer nicht. Jüdische Mutter oder konvertiert. Damit werden viele Leute nicht als jüdisch anerkannt, obwohl sie ein jüdisches Erbe vom Vater mitbekommen haben. Nicht nur was genau jüdisches Erbe ist, ist umstritten, sondern auch wer es besitzen und für sich beanspruchen darf.
Wer fortschreitet, schreitet davon?
Mordechai Kaplan war Rabbiner und Philosoph, der in den USA wirkte. In seinem Hauptwerk „Judaism as a Civilization“, welches 1934 erschien, sah er das Judentum als Kultur und Religion, die sich auf ihre Wurzeln berufen, aber sich immer in Relation mit einer ständig veränderten Welt sehen sollte. So postulierte er, dass jede Generation das Recht und die Pflicht hat, sich mit ihren Traditionen auseinanderzusetzen und diese nach ihrer Lebensrealität annehmen, ablehnen oder ändern darf. Eigentlich ein Gedanke, der nicht zu abwegig ist. Die Traditionen kennen, aber stets auch bereit sein, wenn es sein muss, diese auch umzuwerfen. Nicht damit sie verloren gehen oder vergessen werden, sondern damit es eine Kultur gibt, in der alle ihren Platz haben und finden können. In der man sich nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft entscheiden muss, sondern in der eine Gegenwart angestrebt wird, in der sich beide vereinen. Mordechai Kaplans Auffassung führte jedoch zu einer solchen Kontroverse, dass sich eine neue Strömung des Judentums herausbildete, welche sich von der Orthodoxie, dem konservativen Judentum und dem Reformjudentum abgrenzen sollte und bis heute abgelehnt wird. Rekonstruktionismus wurde geboren. Heute gibt es den Rekonstruktionismus primär in Nordamerika und nur zwei Prozent der dort lebenden Jüdinnen und Juden bekennen sich dazu.
Die Reconstructionists gehen teilweise so weit, dass sie entweder – ähnlich wie Reform – Jüdinnen und Juden – in ihrer Muttersprache beten oder gleich in die liturgischen Texte selbst eingreifen und sie verändern. So gibt es dort Siddurim, in welchen G‘tt in der hebräischen Sprache entgendert wurde. Jedoch sind einige Befürworter:innen oder Personen, die selbst daraus beten, dennoch fest davon überzeugt, dass es die Orthodoxie braucht, um das ursprüngliche Judentum am Leben zu erhalten. Diesen Spannungen sind viele Jüdinnen und Juden ausgesetzt. So ist auch die Frage, ob jüdisches Erbe eigentlich nur innerhalb einer Gemeinde ausgelebt werden kann, weiterhin omnipräsent. Vor allem da in Gemeinden oft die eigene Observanz und Einhaltung der Traditionen reguliert wird. Gleichzeitig ist die Gemeinde ein Ort, an dem das eigene Judentum florieren kann, in dem es ausdrücklich nicht das andere ist. In dem diese Sachen natürlich zu einem kommen und das eigene Jüdisch-Sein nicht immer wieder angezweifelt wird, wo Zugehörigkeit selten debattiert wird. Dies kann auch ein Privileg sein. Ein Privileg, das nicht alle Jüdinnen und Juden haben.
Kulturelles Erbe muss manchmal auch erarbeitet werden. Es muss Bezug auf die alten Texte genommen werden, damit die eigene Lebensrealität innerhalb des eigenen historischen Erbes sichtbar bleibt und historisiert wird. Wir müssen uns selbst in der Geschichte wiederfinden. Es gab einige Bestrebungen und Publikationen. So findet man heutzutage die Werke von Judith Plaskow Standing Again At Sinai. Judaism from a Feminist Perspective, oder Noam Siennas Quellenedition
A Rainbow thread. An Anthology of Queer Jewish Texts from the First Century to 1969, in welchem jüdische Texte, die die Existenz und das Leben queerer, jüdischer Menschen beweisen und sichtbar machen. Auch diese Werke und dieses Wissen ist nun Teil des jüdischen Erbes.
Aber, ob der richtige Weg nun in der Orthodoxie oder bei der Annahme eines genderlosen G’ttes liegt, bleibt offen. Es bleibt ambivalent und kann vermutlich nicht beantwortet werden.
Was ist denn nun jüdisches Kulturerbe?
Wie so oft, wenn es unterschiedliche Positionen gibt, gesagt wird: „Muss jede:r selbst wissen.“. Prinzipiell ist das kein schlechter Ansatz, vor allem weil ich hier an die Aussage eines Redaktionsmitgliedes denken muss. Für diese Person war, als wir den Schwerpunkt besprochen haben, nichts mehr jüdisches Kulturgut als die Weitervererbung von Pelzmänteln. Auch wenn das ganze sehr humoristisch klingt, ist es legitim. Jüdisches Kulturgut hat sich in der Diaspora formiert. In tausenden Regionen, in abertausenden Städten. Während für Ashkenazim Borschtsch jüdisches Kulturgut ist, können die Mizrahim sich nicht damit identifizieren. Die einen nennen es Yamulka, die anderen Kippa. Es gibt eine Diversität, eine Diversität von jüdischen Kulturen, alle unterschiedlich, alle mit anderen Vorstellungen, anderen Vorlieben. Doch alle sind sich in einem sicher: Wir sind jüdisch.
Euphorisch, euphorischer, jüdische Person, die mit ihren Freund:innen Am Israel Chai singt. Jüdinnen und Juden, egal wie religiös sie sind, egal welcher Strömung sie angehören, egal ob sie in einer Gemeinde sind oder nicht. Ein Großteil von ihnen findet in ihrem kulturellen Erbe Kraft, Zuversicht und Kampfgeist. Es kann alles sein. Es kann die Religion sein, es kann das Wissen sein, dass man noch hier ist. Es kann der Pelzmantel sein, der über Generationen weitergegeben wurde und so viel zu sehen bekommen hat, dass da insgeheim der Wunsch besteht, er könnte erzählen. Es kann der Ritus sein, das Einhalten des Shabbats, aus welchem Grund auch immer. Es können die Judaica der Familie sein, es können die eigenen Judaica sein, die man sich selbst gekauft hat. Es kann der Stolz auf ein Erbe sein, das Jahrtausende überdauert hat. Es kann der Wille sein, diese Traditionen auch kritisch zu betrachten. Es kann der Wunsch sein, etwas zu bewegen, etwas zu verändern. Viele finden Kraft im Gebet, andere im Konzept von Tikkun Olam. Manche sehen in ihrem jüdischen Erbe, die Berufung, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, andere sehen darin den Wunsch, jüdische Kinder zu erziehen. Und all das hat seine Berechtigung auf dieser Welt.
Und nun?
So viele Streitigkeiten es auch gibt, so viele Diskurse, so gerne auch Artikel darüber herausgeschossen werden, wer nun jüdisch ist und wer nicht, so sehr diese Meinungsverschiedenheiten auch von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlachtet werden. Es wird dazu Konflikte und Debatten sowie Versuche zu spalten geben. Doch auch Solidarität ist ein jüdisches Kulturgut. Ein Kulturgut, das sich bewehrt hat.
Es braucht Räume, in denen sich verschiedene Strömungen, verschiedenste Identitäten und verschiedene Ansätze zusammenfinden können. In denen ein Schulterschluss möglich ist. In denen bewahrt werden kann, was für bewahrenswert erachtet wird. In denen Missstände aufgezeigt werden können. In denen man sein kann. Dies ist wichtiger denn je. Antisemitismus war immer da im postnazistischen Europa. Er brodelte unter der Oberfläche und nun ist er in den letzten Jahren wieder salonfähiger geworden. Genau deswegen braucht es Orte, in denen jüdisches Kulturgut auch zelebriert werden kann. In denen man auf das, was war, zurückblickt, daraus lernt und daraus Kraft schöpft. Und in denen man auch mit Zuversicht in die Zukunft blickt. Bestimmt und achtsam, aber mit Zuversicht. Auch das ist jüdisches Kulturerbe.
Chris Steinberger