Ignoranz der
Mehrheitsgesellschaft
Ob Jüdinnen und Juden oder deren Kultur: Die Mehrheitsgesellschaft tappt in der Dunkelheit der Ignoranz – selbst beim Lieblingsthema Antisemitismus
„Shalom!“. So begrüßte die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler bei der Präsentation der Kontextualisierung des Lueger-Denkmals die Gegendemonstrant:innen der Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen. Diesen Fauxpas mal beiseitegelegt, überraschte die Durch- und Ausführung der Kontextualisierung durchaus. Die Stadt Wien hatte sich im Vorhinein intensiv mit dem Thema befasst und führte sogar Interviews mit Shoah-Überlebenden und besprach sich mit ihnen, um sie nach ihrer Meinung zu fragen, was mit dem Denkmal passieren sollte, nur um diese dann prompt zu ignorieren. Ihre Forderungen, verfasst in der Form eines offenen Briefs, wurden ignoriert. Zusätzlich ist es auch (mehr als nur) fraglich, ob man ein Denkmal des Gründervaters des politischen Antisemitismus in Österreich angemessen kontextualisieren kann, ohne dessen Antisemitismus zu erwähnen. Schirch ist diese „künstlerische Kontextualisierung“ außerdem.
Solche und andere absolut peinliche Versuche, sich für die eigene Geschichte zu verantworten, vollziehen sich wiederholt und ausgerechnet bei dem eigentlich einzigen Thema mit Bezug zum Judentum, mit dem sich die Mehrheitsgesellschaft regelmäßig auseinandersetzt: Antisemitismus. Bei dem Thema ist man eigentlich immer voll dabei. Die Frage ist nur: Auf welcher Seite? Wenn es in einem anderen Kontext ums Judentum geht, dann sind die meisten entweder unwissend oder sie schweigen aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Tatsächlich scheint es oft so, als wäre das Judentum als Gesprächsthema auf gewisse Art und Weise tabu. Hier liegt nun also auch eines der Probleme: Dadurch, dass sich viele nicht einmal trauen, über das Judentum zu sprechen, ist die Ignoranz gegenüber allem, was nicht Antisemitismus und trotzdem jüdisch ist, gegenüber allem jüdischen Kulturgut, nicht weiter verwunderlich. Aber wieso? Wieso traut sich die Mehrheitsgesellschaft nicht, über das Judentum zu sprechen? Weil sie unwissend ist? Aber wenn man unwissend ist, wäre doch die logische Reaktion, Fragen zu stellen. Wieso passiert das nicht? Wieso liegt es an uns, die Mehrheitsgesellschaft über das Judentum aufzuklären?
Viele Fragen, eine theoretische Antwort: Es ist durchaus möglich, dass der Glaube besteht, das Unwissen allein sei bereits antisemitisch – natürlich ist das vollkommener Schwachsinn. Gut sichtbar wird diese Problematik, wenn von jüdischen Feiertage die Rede ist. Ob es nun darum geht, einen Ausweichtermin für eine Prüfung auf der Universität zu bekommen, weil diese genau zu Jom Kippur stattfindet, oder ob man den Vorgesetzten in der Arbeit erklären muss, dass eben dieser Feiertag ein arbeitsfreier Tag für die jüdische Bevölkerung ist: Leicht ist es nie, vor allem nicht, wenn man dann noch ganz lustige Kolleg:innen abwimmeln muss, die einem die Frage stellen, wieso sie denn nicht auch frei haben, da Jüdinnen und Juden ja auch zu ihren Feiertagen frei hätten. Zumindest beruht diese Haltung auf Gegenseitigkeit. Viele haben genauso wenig Ahnung oder Bezug zu sämtlichen staatlichen Feiertagen und deren Bedeutungen. Freuen über die freien Tage tun wir uns dann aber trotzdem, also danke dafür! Frustrierend wird es dann, wenn beispielsweise die SPD einen Post zu Rosh Hashana auf ihren Social-Media-Kanälen veröffentlicht, auf dem dann versehentlich der Felsendom den Hintergrund schmückt. Das ist nicht nur Unwissen, sondern vor allem ein Maß an Ignoranz, das Realsatire gleicht.
Eine jüdische Person mit „Shalom“ zu begrüßen, wenn man 1.) nicht einmal weiß, ob diese Person Hebräisch spricht und 2.) nicht garantieren kann, ob jene Person überhaupt jüdisch ist (nur weil man mit der JÖH bei einem Protest steht, heißt das nicht automatisch, dass man auch jüdisch sein muss), ist nicht nur unpassend, sondern auch extrem komisch. Man begrüßt ja auch nicht jede muslimische Person mit „As-Salamu Alaikum“, nicht jeden Burschenschafter mit „Sieg-…“‚. Und wieso befasst sich denn die Mehrheitsgesellschaft nur mit Antisemitismus? Heldenkomplex? Wieso kann man sich nur mit dem Judentum befassen, wenn es darum geht, sich selbst als Freund:in und Beschützer:in zu inszenieren? Wenn man dann einmal diese Möglichkeit hat, muss man aber schnell sein, weil es aufgrund der dezimierten jüdischen Bevölkerung nicht genügend Fälle (absolut gesehen, leider keinesfalls relativ) für alle gibt. Aber Exot:innenstatus bekommen wir trotzdem keinen.
Abgesehen von dem:der einen oder anderen Token-Jew in so mancher politischen Fraktion, gibt es einige Organisationen, die wahrhaftige Fortschritte beim interkulturellen Austausch machen. Angefangen bei der JöH oder auch SC Maccabi Wien, bis hin zum Jüdischen Filmfestival, welches deutlich zeigt, dass ein Interesse an der jüdischen Kultur über den Antisemitismus hinaus durchaus vorhanden ist. Vielleicht ist ja auch der Exot:innenstatus, welchen wir nicht bekommen, ein Zeichen dafür, dass die Mehrheitsgesellschaft das Judentum und dessen Kultur als Teil ihrer eigenen sieht. Jedoch hätte uns die Frau Kulturstadträtin dann wohl eher mit „Servus“ begrüßt.
Letztendlich benötigt die Reduktion von Ignoranz einen gegenseitigen Austausch. Dafür braucht es aber ein Interesse an diesem Diskurs, auf beiden Seiten, welches interessanterweise auch bis zu einem gewissen Grad vorzuliegen scheint. Aber wieso gibt es diesen nicht? Wieso ist es Teil des Alltagsgeschäfts, dass jedes Jahr aufs Neue bei Posts zu jüdischen Feiertagen massenhaft „#FreePalestine“ kommentiert und geliked wird? Warum wird dieser Umstand weder verurteilt noch hinterfragt? Viele gute Fragen, aber leider noch keine konkreten Antworten. Sobald es welche gibt, lasst es mich wissen! Bis dahin: Shalom, my fellow Jews.
Saul Rappaport