Jiddisch – mehr als nur eine Sprache
Jiddisch spreche ich mit meinem Vater. Jiddische Lebensweisheiten, Geschichten, Witze und Musik begleiten mich soweit ich zurückdenken kann. Während bei mir diese Sprache meinen Alltag durchdrang, erfuhr ich erst später, dass die Welt sie hingegen als ein Überbleibsel vergangener Zeiten sieht.
NOODNIK – so heißt die von den Jüdisch österreichischen Hochschüler:innen herausgegebene Zeitschrift. NOODNIK ist ein Begriff aus dem Jiddischen und bedeutet Störenfried oder Nervensäge. Der Name wurde bewusst gewählt.
Sprache kreiert Wirklichkeit
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ attestierte Ludwig Wittgenstein 1921, um zu verdeutlichen, dass Sprache unsere gesellschaftliche Wirklichkeit abbildet und sie gleichzeitig (re)produziert. Denn dort, wo der Erfahrungsbereich der persönlichen Welt aufhört, hört auch die Sprache auf. Was keinen Begriff hat, kann nur schwer gesehen werden.
Sprache ist also der Kompass, mit dem wir uns durch die Herausforderungen und Hindernisse des Lebens navigieren. So wie ein Kompass uns auf dem richtigen Kurs hält, beschert uns Sprache Orientierung, Klarheit und Kraft.
Jiddisch spiegelt die jüdische Wirklichkeit
1939 waren es zwölf Millionen Menschen, die Jiddisch als Muttersprache sprachen. Heute sind es zwei Millionen. Ausgrenzung und Verfolgung der Sprache und ihrer Sprecher:innen begannen aber schon während ihrer Entstehung.
Jiddisch hat seine Wurzeln im deutschen Sprachraum und entstand in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels und dem damit einhergehenden Exil, als Jüdinnen und Juden die Sprache ihrer Umgebung für den Alltagsgebrauch übernahmen. Im Jiddischen vereinen sich die Buchstaben des hebräischen Alphabets, aber – anders als im Hebräischen – gibt es Buchstaben für Vokale. Jiddisch und Deutsch drifteten mit der Zeit auseinander, aber noch heute ist eine gewisse Ähnlichkeit zu merken.
Die Kreuzzüge hinterließen eine verheerende Spur in den einst blühenden jüdischen Gemeinden Mitteleuropas. Wer konnte, flüchtete. Der polnische König, der sich einen wirtschaftlichen Aufschwung erhoffte, lud die überlebenden Jüdinnen und Juden aus Aschkenaz ein, in Osteuropa Zuflucht zu finden. Dort erlebte das jüdische Volk 500 Jahre lang ein goldenes Zeitalter. Osteuropa wurde das Epizentrum europäisch-jüdischer Gelehrsamkeit. Und Jiddisch war ihre Sprache.
Jiddisch erblühte und formte sich zu einer neuen Gestalt, als slawische und romanische Einflüsse Einzug in die Sprache hielten und sich unterschiedliche Dialekte entfalteten. Die neue Gestalt spiegelte die neue Wirklichkeit und schuf sie zugleich. So ermöglicht uns die Sprache in eine vergangene Welt hineinzuhorchen, in der unsere Vorfahren gelebt haben. Sie gibt uns eine Kostprobe ihrer einzigartigen Lebenswelten in den Stetls und Ghettos. Was hätten unsere Vorfahren gedacht? Wie hätten sie sich ausgedrückt? Wie hätten sie geliebt? Worüber hätten sie gelacht?
Die Welt mit jiddischen Augen
Jiddische Redewendungen sprechen von der Lebensweise, der Lebenserfahrung, den Sorgen und den Hoffnungen ihrer Sprecher:innen. Sie spiegeln eindringlich die kulturelle Isolation wider, die viele jüdische Bürger:innen erfuhren, sowie die vielfältigen Herausforderungen, die ihnen gegenüberstanden. Somit sind sie nicht nur Ausdruck der jüdischen Kultur, sondern auch Spiegelbild der historischen und soziokulturellen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind.
A nudl mit a fudl is a duwur gudul. (Eine Nadel mit einem Faden ist eine große Sache.) Scheinbar unbedeutende Dinge im Leben können tatsächlich von großer Bedeutung sein.
Asoi wie se christelt, asoi jidelt es. (Das, was die Christen machen, werden bald auch die Jüdinnen und Juden machen.) Dieser Ausdruck zeigt die durchdringende Macht der Aufklärung auf die jüdische Gemeinschaft, die von der vorherrschenden christlichen Mehrheitsgesellschaft geprägt war.
De Mentsch tracht und der Aibeschter lacht. (Der Mensch macht Pläne und Gott lacht.) Dieser Ausdruck wird nicht nur zum Purimfest zitiert, um das Scheitern von Hamans Vorhaben zur Ausrottung der persischen Jüdinnen und Juden zu beschreiben. Nicht alles im Leben kann vorherbestimmt werden. Manchmal wirft das Schicksal einen Curveball mit unerwarteten Überraschungen.
Tanzen oif zwei Chasenes. (Auf zwei Hochzeiten tanzen.) Das Bemühen, allen Anforderungen und Verpflichtungen gerecht zu werden, ist schwierig.
Jiddischem Humor kommt eine essenzielle Rolle zu, denn Humor ist ein Bewältigungsmechanismus, um schwierige Zeiten zu überstehen und traumatische Ereignisse zu verarbeiten. Er ermöglicht uns, das Leben gelassener zu nehmen, indem er als kognitive Ressource fungiert, um den komplexen Anforderungen des Lebens zu begegnen. Jiddische Volkslieder spielen eine ähnliche Rolle. Sie geben Kraft, sie ermutigen, sie trösten, wie es die Kulturszene in den Konzentrationslagern bewiesen hat oder wie es die Musiker auf der Titanik taten, die inmitten des Untergangs noch in ekstatischer Hingabe schwelgten.
Jiddisch heute…und morgen
Die Haskala drohte dem Erhalt von Jiddisch. Sprachwissenschafter:innen strebten danach, Jiddisch als anerkannte säkulare Hochsprache zu etablieren. Ihnen blieb wenig Zeit dafür. Der Holocaust wirft heute noch seinen Schatten.
Seit der Vernichtung der großen jiddisch sprechenden Bevölkerung Osteuropas verlagerte sich das Hauptgewicht der Sprache in chassidischen Gemeinden in den USA und Israel. In Europa entstanden wieder kleine Gemeinden vorwiegend in Wien, in der Schweiz, in Belgien und in London. Und wieder änderte sich die Sprache. Wieder beginnt sie, eine neue Wirklichkeit zu spiegeln. Jiddisch erlebt eine Renaissance weit über die chassidischen Gemeinden hinaus. Musik und Filme auf Jiddisch finden immer mehr Anklang beim breiten Publikum. An Universitäten wird Jiddisch als Studienfach angeboten und das Yiddish Book Center in den USA, finanziell unterstützt von Steven Spielberg, bietet Kurse, Praktika, Übersetzungen und Veranstaltungen an. In Wien kann man an der Jüdischen Volkshochschule Jiddisch erlernen.
Jiddisch ist eine Sprache, die lebt und überlebt. Es ist ein Erinnerungswerkzeug und ein Zeugnis des unvergänglichen Erbes unserer Vorfahren. Es ist die Sprache der Überlebenden und der mehr als sechs Millionen, die nicht überlebt haben. Es ist eine Sprache der Widerstandsfähigkeit und des Triumphs gegen alle Widrigkeiten.
Eidel Malowicki