Judentum zwischen Carnaval und Ausgrenzung

Judentum zwischen Carnaval und Ausgrenzung

Obwohl die jüdischen Gemeinden in Südamerika zu den größten der Welt gehören, wird den Lebensrealitäten der dort lebenden Jüdinnen und Juden kaum Beachtung geschenkt. Ihre Erfahrungen und Geschichten finden nicht wirklich Eingang in den jüdischen Kanon. Warum?

Brasilien, das Sehnsuchtsland. Seitdem es 1530 offiziell zur portugiesischen Kolonie wurde, faszinierte das Land die Menschen immer wieder. Brasilien, benannt nach seinem Exportschlager, dem Brasilholz. Viele reisten nach Brasilien, um zu erforschen, zu entdecken, zu missionieren und zu staunen. Brasilien, bis heute in der Vorstellung Europas ein Paradies. Nicht nur dem Land werden exotische Attribute zugeschrieben, sondern auch seinen Menschen. Es fasziniert, es berauscht, es lässt träumen. Zumindest die Idee von Brasilien, welche im globalen Norden herrscht.

Die Realität sieht anders aus. Brasiliens Boden ist mit Blut getränkt. Es ist eine Geschichte der Gewalt. Es ist eine Kolonie, die nie hätte sein sollen. Die portugiesische Krone erdachte Brasilien als einen Wirtschaftszweig. Die Leute, die dorthin geschickt wurden, meistens Missionare und Angehörige der Oberschicht, hätten nur den Abbau der Rohstoffe, die in Europa zu Geld gemacht wurden, überwachen sollen. Es war nie gedacht, dass es dort dauerhafte Ansiedlungen geben würde. Arbeitskräfte brauchte man dort nie. Dafür gab es die indigene Bevölkerung, die gewaltsam ihrer Kultur beraubt, zwangsmissioniert und Opfer eines Genozids wurde. Die Überlebenden mussten für Portugal schuften, sie wurden versklavt und ihre Freiheit genommen. Als der Klerus sich im 17. Jahrhundert für sie stark machte, indem er behauptete, viele hätten Jesus Christus als ihren Messias angesehen und dies ließe darauf schließen, dass sie eine Seele hätten, wurden Afrikaner:innen verschifft und nahmen den Platz der indigenen Bevölkerung auf den Feldern ein. Auch sie wurden versklavt. Alles im Namen des Imperiums. Brasilien, seit 1822 unabhängig, schaffte als letztes Land der Welt 1889 die Sklaverei ab. Oft wird dies als eine Zuwendung zum Humanismus verstanden. Tatsächlich, lieferte die italienische Massenimmigration Arbeitskräfte, die man unterbezahlen konnte und denen, im Gegensatz zu den Afrobrasilianer:innen, kein Essen und keine Unterkunft bereitgestellt werden musste.

A raça indesejável – die Ungewollten kommen

Jüdinnen und Juden in Brasilien gibt es seit dessen vermeintlicher „Entdeckung“ um 1500. Sie alle waren sogenannte Conversos; Jüdinnen und Juden, die von der portugiesischen Krone zum Christentum zwangskonvertiert wurden. Einige der ersten Reisenden waren solche Cristãos Novos (Neue Christen). Die erste offen jüdisch lebende Gemeinde in den Amerikas lässt sich auf dem Gebiet des heutigen Nordostens Brasiliens finden. Für eine kurze Zeit im 17. Jahrhundert war dieser Teil niederländische Kolonie. Dort konnten Jüdinnen und Juden frei ihren Glauben praktizieren. In der Stadt Recife gründeten sie die erste Synagoge der „neuen Welt“, die sogenannte Kahal-Zur-Synagoge. Als die Portugiesen diese Region wieder unter ihre Kontrolle brachten, wanderte die gesamte jüdische Bevölkerung nach New Amsterdam (heute New York) aus, und das jüdische Leben verschwand wieder.

Oder doch nicht? Bis heute gibt es sogenannte „Amazonas-Juden“. Jüdinnen und Juden die, wie der Name sagt, im Amazonasgebiet leben und dort ein sephardisches Judentum praktizieren, das dem in Al-Andalus sehr ähnlich ist. Es ist historisch nicht geklärt, seit wann genau es diese Gemeinde gibt, jedoch scheint es so, als wären sie mit den Religionsreformen der Sephard:innen des Osmanischen Reichs und Nordafrikas nicht in Berührung gekommen. Die offizielle Geschichtsschreibung spricht jedoch davon, dass jüdisches Leben in Brasilien sich erst wieder im 19. Jahrhundert formierte.

1822 Unabhängigkeit, 1824 eine Verfassung, die freie Religionsausübung garantierte. Zuerst emigrierten primär marokkanische Sephard:innen nach Brasilien, im frühen 20. Jahrhundert russische Ashkenaz:innen, die vor den Pogromen flohen. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es ungefähr 7000 Jüdinnen und Juden in Brasilien, die Gemeindestrukturen aufbauten. Besonders im Süden des Landes betrieben sie Landwirtschaft.

Man wollte sie aber nicht so wirklich haben. Ein Begriff für Jüdinnen und Juden vor allem im 20. Jahrhundert war a raça indesejável, die ungewollte Rasse. 1937 wurde in Brasilien der Estado Novo ausgerufen und Präsident Vargas zum wohlwollenden Diktator. Eines der ersten Dekrete war, Jüdinnen und Juden aus Europa die Einreise zu verweigern. Luís Martins de Souza Dantas, Botschafter in Paris, konnte jedoch bewirken, dass die Regierung ihm erlaubte, in Ausnahmefällen und unter seiner Verantwortung Visa auszustellen. Damit konnte er ungefähr 7000 Jüdinnen und Juden in Frankreich das Leben retten. Dennoch gab es von 1933-1942 tausende Jüdinnen und Juden, die nach Brasilien emigrierten. Als 1943 Brasilien in den Zweiten Weltkrieg eintrat, wurden sie gemeinsam mit Deutschen, Italiener:innen und Japaner:innen zu Staatsfeinden erklärt.

Selbst nach 1945 und nach der Ära Vargas wurde die antisemitische Politik weiter betrieben und Jüdinnen und Juden das Leben erschwert. Beim zweiten Exodus der 1960er schafften es trotzdem 15.000 ägyptische Jüdinnen und Juden ins Land.

Die heutige Situation

Heute leben in Brasilien 120.000 Jüdinnen und Juden. Sie machen 0,05 Prozent der Bevölkerung aus und sind trotzdem unter den größten jüdischen Gemeinden der Welt. Viele von ihnen prägten Sambakultur und Literatur. Eine Vielzahl schloss sich dem Widerstand gegen die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 an.

Doch wer an Brasilien denkt, denkt nicht an Jüdinnen und Juden. Sie werden nicht mitgedacht. Auch soll es laut Berichten kaum Antisemitismus geben. Jedoch gibt es bis heute kaum eine eigene Statistik zu Judenfeindlichkeit. Und es liegt etwas in der Luft. Brasilien erlebt, wie Europa, immer wieder israelbezogenen Antisemitismus, wann immer der Nahostkonflikt eskaliert. Zugleich zeigt sich eine neue Gefahr: Die faschistischen Anhänger:innen Bolsonaros, die den Wahlsieg des linken Kandidaten Lula nicht anerkennen wollen, zeigen sich überraschend neonazistisch. Eine Bewegung, die es zwar in Brasilien gab, die jedoch nie so öffentlich aufgetreten ist. Bei dem Sturm auf den Congresso wurde nach Militärdiktatur gerufen, es wurden offen Hitlergrüße gezeigt. Auch Antisemitismus ist plötzlich omnipräsent. Er zeigt sich lautstark als Gegenstück zum Rassismus gegenüber Afrobrasilianer:innen und Indigenen. Dies hat auch mit der ähnlichen Ideologie der white supremacists in den USA zu tun, die als Vorbild dienen. So hat seit Trump Q-Anon in Brasilien Einzug gefunden. Dennoch handelt es sich hierbei um einen Antisemitismus, der schon länger unter der Oberfläche wuchert. Eine Gesellschaft, die sich unter Gewalt formierte, wird nicht so leicht friedfertig. Es braucht das „andere“. Und dafür eignen sich Jüdinnen und Juden zu gut.

Chris Steinberger

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