Was erzählen wir?
Menschen sind Storytellers. Wir erzählen Geschichten über uns, über unsere Welt, über die Vergangenheit, über die Zukunft. Wir erzählen sie am Tisch, in Büchern und in Filmen. Die Geschichten, die wir hören und erzählen, beeinflussen unsere Identität und lassen sie gedeihen – auch jene Geschichten, die uns aufgezwungen wurden.
Wer in die Geschichte zurückblickt, trifft kaum auf eine Epoche jüdischer Existenz ohne Folter, Verfolgung und Vertreibung. Auf einem Spaziergang durch Wien mit Blick auf die jüdische Vergangenheit verwandeln sich alltägliche Orte zu Tatorten des sich hier zugetragenen Grauens. Sie erzählen eine andere Geschichte: Die Gänseweide in Erdberg wird Schauplatz der Hinrichtung von mehr als 200 jüdischen Männern und Frauen auf dem Scheiterhaufen. Im Werd wird die Erinnerung an Benno Kerns Memoire wach. Das Karmeliterviertel gemahnt an die Schlachtrufe. Die Seitenstettengasse ist Augenzeugin der tödlichen Schüsse auf Besucher:innen des Stadttempels. Im 20. Jahrhundert kulminiert die Leidensgeschichte eines fortan marginalisierten Volkes in einer Talfahrt der Entmenschlichung und der systematischen Ausrottung von Jüdinnen und Juden.
Es könnte behauptet werden, dass die jüdische
Geschichte eine Leidensgeschichte sei. Es könnte sogar behauptet werden, dass sich die jüdische Identität und das jüdische Kulturerbe über das kontinuierliche Erleiden von kollektiven Schicksalsschlägen und traumatischen Erlebnissen definieren. Max Weber spricht von einem Pariavolk, wenn er den sozialen Außenseiterstatus der
Jüdinnen und Juden soziologisch zum Ausdruck bringt.
Jüdische Feiertage als Weitergabe von Geschichten
Und trotzdem: Wenn wir die Kerzen an Chanukka brennen lassen, entsinnen wir uns der Wiedereinweihung des Zweiten Tempels, an Pessach rekapitulieren wir das Elend der Sklaverei in Ägypten und sogar im schönsten Moment des Lebens, wenn das Brautpaar vom Baldachin wie von einer Schutzmauer umhüllt ist, lassen wir ein Glas in tausend Scherben zersplittern, um an die Zeit zu erinnern, als der Tempel seine Schutzmauern verlor. Es wird klar, dass jüdische Feiertage um das Gedenken kreisen. Durch Geschichten bleiben Erinnerungen wach. Kollektive Erinnerungen legen den Grundstein einer kollektiven Identität.
Doch vielleicht ist ein tiefgründigerer Blick notwendig. Wir erinnern uns nicht nur an die Trauermomente, sondern auch an unsere Errungenschaften und unseren Heroismus. Chanukka erinnert an das Ölwunder und an Yehudith, die den seleukidischen Feldherrn berauschte, ihn enthauptete und ihr Volk vor einer Niederlage bewahrte. Die Verkleidung an Purim erinnert an die mutige Esther. Seht, was wir alles erlitten haben und trotzdem weiter bestehen.
Traumata wirken identitätsstiftend
Nicht alle Geschichten sind schön. Die transgenerationale Weitergabe von Traumata ist ein Phänomen, das die Generation betrifft, die nach der Shoah geboren, aber dennoch stark von den traumatischen Folgen geprägt wurde. Für sie wird die Shoah zum Symbolträger ihrer jüdischen Identität. Die Geschichten und die Worte der Vorfahr:innen hallen in dieser Generation eindrücklich nach – das kann sich im Aktivismus, in einem hohen Verantwortungsbewusstsein und in einem Bedürfnis, die Erinnerungskultur zu pflegen, manifestieren.
Von einem Pariavolk hin zu einem selbstbestimmten Volk
Die im 20. Jahrhundert stattgefundene Kulminierung der Leidensgeschichte führte zu einem veränderten Europa und Mittleren Osten. Ben Gurions Verkündung am 14. Mai 1948 entzündete eine Flamme der Hoffnung für die traumatisierten Überlebenden, die das Schicksal nunmehr selbst in die Hand nehmen wollten. Die Etablierung des jüdischen Staates brachte eine Neuorientierung der jüdischen Selbstdefinition: Jüdinnen und Juden agieren nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt. Sie bilden ihr Selbstverständnis jenseits der Negation des vorhandenen Antisemitismus. Ein selbstbestimmtes Volk ersetzte nun Max Webers Pariavolk.
Jedoch: Täterzuschreibung statt Opferzuschreibung
Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, und die Geschichten, die andere über uns erzählen, treffen aufeinander. Die neue Identifikation mit dem Staat Israel brachte ein Phänomen hervor, dem nie zuvor begegnet worden war: latenter Antisemitismus unter dem Deckmantel eines vehementen Antizionismus. Latent deshalb, da Antisemitismus seit 1945 tabuisiert wird. Antisemitische Einstellungen werden häufig nicht offen geäußert, bestehen jedoch diskret, verschleiert und in neuen Erscheinungsformen fort. Der Antisemitismus, der in den vorherigen Jahrzehnten in der Öffentlichkeit, vor allem politisch, instrumentalisiert wurde, verlagerte sich in private Räume. Wenn Antisemitismus in der Gesellschaft als unangenehmes, sensibles und heikles Thema wahrgenommen wird und sogar strafrechtliche Folgen mit sich bringt, sucht er seinen Platz jenseits der Öffentlichkeit. Der antizionistische Antisemitismus tarnt sich durch den Schleier der Israelkritik. Es wird Jüdinnen und Juden nicht nur eine Opferrolle zugeschrieben wenn es gerade passt, sondern auch vorgeworfen, sich in die Opferrolle zu begeben, um Mitleid zu erlangen. Neuerdings lautet der Vorwurf, sich in die Täterrolle zu begeben und Unschuldige zu terrorisieren. Klaus Davidowicz stellt resümierend fest, dass der Judenhass wie ein Chamäleon sei – er ändere ständig die Farbe, bliebe jedoch in seiner Grundessenz gleich. Israelkritik ist aber nicht per se mit Antisemitismus gleichzusetzen. Hier ist Feingespür notwendig.
Geschichten formen und tragen Identität
Ob als Opfer, Held:innen oder Täter:innen, die Geschichten, die wir erzählen und die über uns erzählt werden, konfrontieren uns mit einer normativen Erwartung. Sprache agiert hier als Selektionsverfahren. Man kann bekanntlich nicht alles erzählen, geschweige denn alles wahrgenommen haben.
Es geht also um die Frage, welche Geschichten wir erzählen wollen, mit Rücksicht darauf, dass sie sinnstiftend sind. Mit anderen Worten geht es darum, auch noch im tiefsten Leiden einen Sinn zu finden. Wir kehren die Geschichten um. Sie stärken uns. Sie geben uns Held:innen als Vorbild.
Eidel Malowicki