Manifesto des Verlangens
Ich bin jüdisch. Ich bin Feministin. Ich bin orthodox. Und ich habe eine Krise.
Die Frage der Vereinbarkeit von Orthodoxie und Feminismus begleitet mich seit Jahren. Mal schreit sie mir ins Gesicht, als müsste ich sofort eine Lösung finden oder eine endgültige Entscheidung treffen. Mal begleitet sie mich als stille Gefährtin, die den pulsierenden Druck des Ungewissen mit sich trägt. Mal begegnen wir uns zu besonderen Anlässen, wie eine vergangene Freundschaft, die komplexe Erinnerungen wiedererweckt und danach wieder fortzieht. Doch ganz weg ist sie nie.
An erster Stelle war ich immer jüdisch – bewusst, stolz und religiös. Im Nachhinein bewundere ich die zehnjährige Esther, die so aufrichtig zu ihrem Judentum stand, sich immer zu verteidigen wusste und ihr Judentum mit erhobenem Haupte mit sich trug. Hätte ich das nicht getan, wäre meine geborgene Beziehung zum Judentum langsam verwelkt und ich hätte mich zwischen säkularem Umfeld und jüdischem Familienleben verloren. Mir kommt auch zugute, dass ich aus einer sehr selbstbewussten und stolzen religiösen aber auch modernen Familie komme. Erst als ich das familiäre Nest mit achtzehn Jahren verließ, wurde mir bewusst, wie privilegiert ich war, von einem Vater großgezogen zu werden, der mir alles ermöglichen wollte und so auch die halachischen Grenzen der Orthodoxie immer wieder austestete – zu Gunsten der Inklusion und Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen in religiösem Rahmen.
Gemeinschaft gibt‘s nur zu zehnt
Als ich mein Studium in England begann, war ich das erste Mal Teil einer großen jüdischen und jungen Gemeinde. Ich war anfangs total begeistert – auf einmal stand ich nicht mehr außen vor oder musste mich ständig erklären. Doch mit großen, etablierten Einrichtungen kamen auch steifere Strukturen und Angehensweisen einher. Mit der Zeit fühlte ich mich ausgegrenzter aus meiner eigenen orthodoxen Gemeinschaft als jemals zuvor. Zur Simchat-Tora (anm.: Freude der Thora) -Feier meiner örtlichen, jüdischen Studierendengemeinschaft (die in meiner Stadt sehr orthodox-normativ ausfiel), bekamen wir Frauen nur einen kleinen Raum zugeteilt, konnten nicht mit der Tora tanzen – geschweige denn, sie berühren. Ich beobachtete zum ersten Mal, wie die Sicht fast aller Frauen auf die Männerseite gerichtet war. Wenn die Männer das Lied änderten, so sang unsere Seite mit, wenn sie tanzten, tanzten wir auch, wenn auch mit weniger Enthusiasmus – ich verabschiedete mich sehr schnell aus diesem Kreis und verbrachte den Rest des Abends am Buffet mit gleichgesinnten Freundinnen. So ist es keine Überraschung, dass ich in den darauffolgenden Unijahren zu Simchat Tora meine Abende lieber freiwillig als Sicherheitspersonal vor der Synagogen-Tür verbrachte.
Natürlich ist Simchat Tora ein universelles Erlebnis der Enttäuschung für viele jüdische Frauen und non-binäre Menschen weltweit und somit ist diese Anekdote auch nicht weltbewegend. Jedoch blieb dieses Gefühl der Perplexität, welches sich zwischendurch in Resignation umwandelte, über die tonangebende Atmosphäre der Männer um mich herum. Erst als ich das Konzept des Partnership Minyan (zu deutsch: Partnerschaftsminyan) kennenlernte (als ich nach meinem Bachelor nach London zog), erfuhr ich eine meiner vielen Renaissancen. Obwohl das Partnership Minyan auch den halachischen Regeln eines Gottesdienstes folgt, versucht dieses, alle Schlupflöcher im gegebenen Rahmen auszunutzen und kreiert somit einen etwas gleichberechtigteren Spielraum. Doch der Hauptunterschied im Konzept des Partnership Minyans war für mich die Einstellung und Gesinnung der Anwesenden. Auf einmal war ich ein integraler Teil des Gottesdienstes und seines Erfolges. Ich zählte. Nicht nur, wenn ich die zehnte Frau neben den zehn Männern war. Meine Präsenz war wertgeschätzt und ich wurde willkommen geheißen.
Where to begin
Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass ich gebraucht werden möchte. Im Allgemeinen ist das ein Teil meiner Persönlichkeit. Positive Gruppenerfahrungen und Gemeinschaftserlebnisse sind mir wichtig, gerade als Person mit Madricha-Mentalität, die nie eine Madricha (anm.: Gruppenleiterin) war, was auch sehr offensichtlich ist in meiner bisherigen Karriere. So will ich auch in meinen religiösen und jüdischen Kreisen gebraucht werden. Darüber hinaus muss ich das Verlangen nach Veränderung in unseren Gemeinden und jüdischen Umfeldern spüren. Gleichzeitig sind Konzepte wie das Partnership Minyan keine Langzeitlösung, da diese weiterhin mit binärem Bezugsrahmen fungieren und Realitäten, wie Trans- oder non-binäre Menschen in orthodoxen Gemeinden auch miteinbezogen werden müssten.
Es ist unmöglich, eine komplette Analyse der patriarchalen Merkmale und Strukturen des Judentums und des orthodoxen Judentums in einem einzigen Artikel durchzuführen. Wenn ich an die vielen Ungleichheiten denke, die mir über die Jahre begegnet oder widerfahren sind oder die noch in meiner Zukunft liegen, da sie erst spätere Lebensabschnitte betreffen, würde die Liste die Länge dieses Artikels sprengen. Dabei geht es nicht nur darum, dass beispielsweise die Kleidungsbestimmungen für Frauen strenger sind als jene für Männer, oder dass sich Frauen nur mit Einverständnis des Ehemannes scheiden lassen können. Sondern auch um die allgemeine Einstellung und die tief-sitzend und latenten Diskriminierungen, die das alltägliche Leben außerhalb des orthodoxen Raumes begleiten. So sind es oft die Frauen, die gebeten werden den Kiddusch mit Kaffee und Kuchen während des Schabbatmorgen-Gottesdienstes vorzubereiten, damit alles bereit steht, sobald Adon Olam (anm.: das letzte Lied in der Abhandlung des Gottesdienstes) verklingt. Auch wird es in manchen Gemeinden komplett vernachlässigt, einen angemessenen Gebetsraum für Frauen zu schaffen. Natürlich bleibt viel zu wünschen übrig, was die halachischen Regeln oder rabbinischen Verordnungen anbelangt, oder deren einengende Interpretationen, wenn es um den Stand der Frau im Judentum geht. Jedoch bleibt dies auch ein intersektionales Problem, das nicht nur durch ein Fingerzeigen auf die orthodoxen Gemeinden gerichtet werden kann.
Geschichte und Tradition müssen umgekrempelt und gleichzeitig respektiert werden. Es muss anerkannt werden, dass es nicht nur um textliche Ungleichheiten geht, sondern auch um gesellschaftliche und institutionelle Barrieren und es schon einiges zu adressieren gäbe, bevor man sich der textlichen Basis unserer Praktiken zuwendet.
Somit bin ich nun in meinem jüngsten Abschnitt angelangt, in dem ich auch keine Lust mehr darauf habe „Grassroots“-Gemeinden oder Initiativen anzugehören. Dies hat weitaus mehr Gründe, als nur meinen feministischen Frust. Vielmehr möchte ich einfach Teil des Mainstreams sein. Das Judentum gehört mir. Nicht nur mein Judentum, sondern auch DAS Judentum. Und ich möchte mitentscheiden. Ich will geschätzt, gesehen, gebraucht werden. Eine Wehklage, mit der sich wahrscheinlich viele marginalisierte und intersektionale Identitäten innerhalb und außerhalb des Judentums identifizieren können. Das bedeutet auch nicht, dass ich mich einer anderen Strömung im Judentum anschließen möchte oder das ganze Theater komplett hinter mir lasse. Ich bin stolz darauf, mich als orthodoxe, feministische, jüdische Frau zu bezeichnen – sogar wenn sich diese Labels zoffen. Wie jüdisch kann ich schon sein, wenn ich nicht ab und zu ein Kriselchen habe? Geschweige denn, dass ich für die Veränderungen kämpfen muss, die ich sehen möchte.
Und so verbleibe ich euch und dem Judentum mit den weisen Worten von Sheryl Crow: „A change would do you good“.
Esther Offenberg