Fragile moderne Männlichkeit

Fragile moderne Männlichkeit

Durch den erstrebenswerten politischen Kampf, stereotype Rollenbilder aufzubrechen, ist ein Definitionsvakuum entstanden. Dieses gibt Figuren wie Andrew Tate den Raum, Männlichkeit basierend auf traditionellen Vorstellungen zu definieren.

Kaum jemand, der im letzten Jahr auf sozialen Medien aktiv war, konnte Videos von oder über Andrew Tate entgehen. Der ehemalige Kickboxer präsentiert sich als das Männlichkeitssymbol schlechthin, welches jungen Männern heutzutage fehlt. Dabei beruft er sich auf „traditionelle“ Werte und Ansichten, vor allem aber auf die gesellschaftliche Rollenverteilung von Männern und Frauen.

Wer jedoch schon länger Diskursen dieser Art folgt, kennt die Argumente und Ansichten bereits. Seit mehreren Jahren vertreten weniger provokante, teils sogar (pseudo-)intellektuelle Persönlichkeiten wie Jordan Peterson diese Ansichten. Sie dominieren damit einen beachtlichen Teil des Internets. Tate ist lediglich die neueste und prominenteste Inkarnation dieser Gedanken. Das zentrale Thema ist die männliche Identität in einer modernen Gesellschaft.

Wir müssen uns somit fragen, aus welchem Kontext diese Diskurse kommen, wie sie unsere heutige Gesellschaft beeinflussen und welche  Konsequenzen sie auf die Zukunft entfalten.

Der historische Hintergrund für die Präsenz  solcher Persönlichkeiten und ihrer Diskurse ist bekannt. Das steigende Gefühl von Unsicherheit und der empfundene Werteverlust  der Gesellschaft sind auf die Entwicklung der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zurückzuführen. Durch das Aufbrechen der traditionellen Rollenbilder sind Männer, denen sie einen Anhaltspunkt gaben und ein zu erreichendes Ziel waren, verunsichert. Ein zentraler Teil dieses männlichen Rollenbildes ist die Position als Versorger. Unter allen Charakteristiken, die hilfreich oder anziehend sind, um seinen Status einer Frau gegenüber unter Beweis zu stellen und sich dadurch als Partner attraktiv zu machen, war jener eines Gehalts immer eines der wichtigsten. Oft war auch nur dieser Faktor von Bedeutung, weil Frauen von hohen Gehältern ausgeschlossen waren.

Neuverteilung als Nullsummenspiel

Seit Jahrzehnten jedoch nehmen Frauen nun genau diese Position als Versorgerinnen ein. Frauen können nun unabhängig sein, eigene Karrierepfade bestreiten und somit auch gegenüber Männern ihr Gehalt und ihren gesellschaftlichen Status geltend machen. So erkennen wir also, dass Frauen Rollen übernehmen, die traditionell als männlich verstanden wurden, und dass gleichzeitig Männer jedoch deutlich seltener Rollen übernehmen, die traditionell als weiblich verstanden wurden. Es besteht also keine gleichmäßige Neuverteilung. Frauen scheinen Status in der Gesellschaft zu gewinnen, während viele Männer das Gefühl haben, genau diesen zu verlieren. So wird diese Neuverteilung als Nullsummenspiel mit Gewinnen und Verlusten verstanden. Die logische Schlussfolgerung für Männer mit Angst vor ihren Verlusten ist also die Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern, die ihnen Status, Macht und gesellschaftliche Anerkennung sichern und die Frauen wieder sozial herabsetzen sowie von ihnen abhängig machen.

Genau in dieser Problematik verankern sich Persönlichkeiten wie Andrew Tate. Sie identifizieren die Symptome der Problematik richtig: einen männlichen Identitätsverlust, ein Gefühl der Wertlosigkeit und soziale Isolation. Ironischerweise wird auch oft die Entfremdung der heutigen kapitalistischen Gesellschaft angesprochen, wenn auch nicht mit diesen Worten. Tate erklärt zum Beispiel, dass er selbst als armer junger Mann schockiert war von dem enormen Reichtum, der einigen zur Verfügung stand, während die meisten, damals auch er, mit Armut zu kämpfen hatten.

Manch einer würde für die hier aufgezeigten Problematiken Lösungensmöglichkeiten unterbreiten, die auf der Hand liegen und die im Sinne aller Beteiligten sind. Männlichkeit könnte flexibler definiert werden, neue Rollen und Funktionen könnten gefunden werden. Allgemein könnte man das Konzept von Attributen, welche die Geschlechter bisher bestimmt haben, überdenken. So könnte sich jede Person individuell ihre eigene Rolle in der Gesellschaft oder in einer Beziehung zurechtlegen. Zumindest müsste man dies nicht als Nullsummenspiel zwischen Mann und Frau mit Gewinner:innen und Verlierer:innen definieren.

Auch in Bezug auf die Entfremdung könnte man Lösungsmuster definieren, und ebenso  könnte man das kapitalistische System an sich kritisieren oder überlegen, wie man darin faire Bedingungen schafft. Die Frage klären, wie dafür gesorgt werden könnte, dass nicht zunehmend  mehr Ressourcen und Arbeitsweisen von immer weniger reichen Menschen kontrolliert werden?

Nicht, dass diese Lösungen ganz ohne Schwierigkeiten oder Probleme gelöst werden könnten. Aber zumindest wären diese erstrebenswerte Ideale, die einen Weg vorwärts weisen, anstatt einfach eine soziale Regression anzustreben.

Fortschritt durch Regression

Hier erkennen wir die Schiefheilung Andrew Tates und vergleichbarer Persönlichkeiten allgemein. Diese Problematiken werden zwar erkannt, die Lösungsansätze sind jedoch reaktionär. Tate verschwendet keine Sekunde, bevor er progressive Gedanken und moderne Gesellschaftsentwicklung anprangert und kritisiert. Diese Entwicklung hat genau diese Problematiken hervorgebracht. Männer sollen nicht neue Rollen finden oder einnehmen oder ihren Wert anders unter Beweis stellen. Nein, sie sollen diesen umso mehr und intensiver durch Einkommen, materielle Statussymbole und Frauen demonstrieren (die letzteren beiden verschwimmen oft zu einem Punkt zusammen).

Tate führt verwirrte oder verunsicherte Männer genau in das System zurück, das diese Gefühle verursacht hat. Zurück zu den Rollenbildern, die sie von nicht erreichbaren Maskulinitätsidealen, kaum realistischen Vorstellungen von Erfolg oder einschränkenden sozialen Normen umgeben.

Im selben Kontext sollen Frauen ebenfalls in ihren alten Rollen verharren und nach diesen definiert werden. Unterwürfigkeit, Prüderie, Rolle im Haushalt und Kindererziehung und im sozialen Bereich.

Wie so häufig bei reaktionärem Gedankengut, wird diese klassische Rollenverteilung oft durch Anspielungen auf die Natur der Sache gerechtfertigt.

Durch die Anerkennung und Verbreitung dieser Meinungen im Netz erkennen wir einen enormen Drang, diesen entgegenzuwirken. Diese Gefühle der Wertlosigkeit in der Gesellschaft, des Mangels an Identität und einer potenten, kohärenten Definition von Männlichkeit, führen immer mehr zu einer Polarisierung in reaktionäre Kreise, auch wenn dies nur oberflächlich anfängt.

Sexismus ist die universellste Form des Vorurteils. Genau wie die beschriebenen, weit verbreiteten Unsicherheiten und Mängel die einfachste Art darstellt, Männer in solche Bahnen zu locken und darin zu festigen.

Für jeden misogynen Menschenhändler, der im Netz zur Rückkehr zu traditionellen Idealen aufruft, braucht es noch stärkere Stimmen dagegen, die aber ebenfalls eine befriedigende, ansprechende Definition von Männlichkeit anbieten müssen, die auch weit verbreitet werden kann. Wie so oft in solchen Diskursen bedeutet sich nicht dazu zu äußern, der anderen Seite den Diskurs zu überlassen.

Maximilian Thau

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