3.500 Jahre Kampf um Selbstbestimmung

3.500 Jahre Kampf um Selbstbestimmung

Während Jüdinnen und Juden in der europäischen Mehrheitsgesellschaft wahrscheinlich so wenig mit Widerstand assoziiert werden, wie die “Friedenstruppen” des russischen Irren mit Pazifismus, so prägt das jüdische Volk doch eine transgenerationale Tradition der Auflehnung gegen seine fortlaufende, existenzielle Bedrohung.

Der exakte Beginn der Idee des jüdischen Widerstands ist nicht genau datiert, aber die älteste Geschichte, die die Bibel – also bei Jüdinnen und Juden die Tora – zu dem Thema hergibt, ist wohl die von Moses, der sich gegen Pharao und damit gegen Sklaverei und Genozid auflehnte. “Lass mein Volk ziehen!” richtete er ihm vom Erschaffer aus, doch der Pharao verneinte. Zehn Plagen später war das jüdische Volk auf dem Weg in Richtung Freiheit und Selbstbestimmung. Ein Weiterleben in der Sklaverei hätte wohl über kurz oder lang zu einem (kulturellen) Aussterben des Judentums geführt.

Nun lässt sich darüber streiten, ob diese Geschichte wirklich so passiert ist. Die Historiker:innen werden ihre historische Faktizität wohl in Frage stellen, jedoch sagt diese Erzählung viel über das jüdische Selbstverständnis aus. Die Gründungsgeschichte des jüdischen Volkes – denn im jüdischen Selbstverständnis wurde es erst durch Moses und den damit einhergehenden Auszug aus Ägypten zum Volk – basiert auf einem rebellischen Akt des Widerstands, der (mit der Unterstützung G’ttes) den Weg in Richtung Selbstbestimmung ebnete. Es war also bereits Moses, der zeigte, dass Jüdinnen und Juden vor allem eines sind: Widerständig!

Let my people go!

Auch in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren lag dem jüdischen Volk der Satz “Lass mein Volk ziehen!” im Ohr. Im Konkreten waren es die sowjetischen Jüdinnen und Juden, die insbesondere nach der Beteiligung der Sowjetunion an den ägyptisch-syrischen Plänen zur Zerstörung Israels, eine Ausreise verlangten. Unter dem Vorwand von “Spionage” und “Hochverrat” weigerte sich jedoch die sowjetische Regierung, sie gehen zu lassen. Jüdinnen und Juden lebten in der Sowjetunion in einem strukturell antisemitischen Staat, in dem ihnen nicht einmal theoretisch alle Möglichkeiten in der Berufs- und Ausbildungswahl offen standen. Die Religionsausübung wurde durch massive Synagogenschließungen eingeschränkt und in letzter Konsequenz verunmöglicht. Eine Gruppe von “Refuseniks” rund um den Dissidenten Edward Kuznetsov, denen die Ausreise verweigert wurde, schmiedete den Plan, ein Flugzeug gewaltfrei zu entführen, um damit nach Schweden, also in den Westen, zu reisen. Einerseits, um Aufmerksamkeit für die desperate Lage in der Sowjetunion zu schaffen und andererseits, um selbst aus der Sowjetunion zu fliehen.

Der Plan ging jedoch nicht auf und das Flugzeug landete nicht unweit von Leningrad im heutigen St. Petersburg. Dort wurden die Refuseniks verhaftet und einige von ihnen zunächst zu Todesstrafen verurteilt. Durch Proteste im In- und Ausland wurden aus den Todes- dann glücklicherweise Haftstrafen. Der große Effekt dieses widerständigen Akts zeigte sich erst ein wenig später: Während in den 1960ern nur 4.000 Jüdinnen und Juden die Sowjetunion verlassen durften, waren es in den 1970ern schon mehr als 347.000.

Lauter und stiller Widerstand

Zu Zeiten des Nationalsozialismus hofften viele jüdische Menschen, der Schrecken sei nur von kurzer Dauer. Manche waren sogar der Überzeugung, man solle mit den Nazis kooperieren, vielleicht würden diese einen ja dann in Ruhe oder zumindest am Leben lassen. Trotz dieser unbegreiflich tragischen Fehleinschätzung existiert eine Vielzahl an Geschichten des jüdischen Widerstands während der Shoah. Ein Beispiel ist Hannah Szenes, eine junge ungarische Jüdin, die es 1939 zwar geschafft hatte, in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina zu fliehen, sich aber dennoch freiwillig als Kämpferin bei der britischen Armee meldete. Dort wurde sie Teil einer Sabotage-Spezialeinheit, welche per Fallschirm hinter den feindlichen Linien abspringen sollte, um die Alliierten mit Informationen zu unterstützen und verfolgte Jüdinnen und Juden zu retten. Nach der Landung in Jugoslawien und dem Anschluss an eine Gruppe von Partisan:innen, wurde Szenes letztlich bei dem Versuch der Überquerung der ungarischen Grenze gefasst, inhaftiert und monatelang gefoltert. Selbst nachdem ihr mit der Tötung ihrer Mutter gedroht wurde, widersetzte sie sich der Forderung, jegliche Geheiminformationen preiszugeben. Sie wurde im November 1944 ermordet.

Ein weiterer, lauter Widerstand, welcher unter den dutzenden Aufständen in Ghettos und Konzentrationslagern als eine der einzig erfolgreichen Revolten heraussticht, ist jener in Sobibor. Dort hatte sich nach Gerüchten über die Schließung des Lagers, was die Ermordung aller Häftlinge bedeutet hätte, eine Gruppe um Leon Feldhendler gebildet, welcher zuvor im Judenrat von Żółkiewka tätig war. Seine Familie war bereits erschossen oder vergast worden und er konnte seinerseits nur überleben, da sein Cousin ihn als geschulten Handwerker ausgab. Nachdem eine Vergiftung der Wachmänner gescheitert war, nahm der Fluchtplan erneut an Fahrt auf, als Alexander Pechersky, ein jüdischer Offizier der roten Armee nach Sobibor deportiert worden war. Über die Überwältigung und Tötung von SS-Offizieren schafften es ungefähr 300 Jüdinnen und Juden unmittelbar aus dem Lager zu fliehen, von denen jedoch nur wenige den Zweiten Weltkrieg überlebten. Trotzdem spielen sie und viele weitere Heldinnen und Helden eine entscheidende Rolle in der Selbstwahrnehmung von Jüdinnen und Juden, vor allem in Israel. Die europäische Erinnerungskultur, welche den Fokus vor allem auf die Darstellung von Jüdinnen und Juden als wehrlose Opfer legt, steht dabei in einem starken Kontrast zum Gedenken in Israel. Untermauert wird dies jährlich durch den Yom Hashoa (“Tag zur Erinnerung des Holocausts”), welcher anders als der International Holocaust Remembrance Day nicht auf den Tag der Befreiung von Auschwitz datiert ist, sondern auf den Warschauer Ghetto-Aufstand, also den größten Akt jüdischen Widerstands während des Holocausts.

Im Kontrast zu solchen Geschichten stehen die stillen Widerstände, jene im Geheimen, im Kleinen. Vielleicht war es das Stehlen zweier Kerzen unter Lebensgefahr, einzig und allein für die Möglichkeit, den Shabbat feiern zu können. Vielleicht war es auch die Idee, an der Sinnhaftigkeit und einem Leben nach der erlittenen Grausamkeit festzuhalten. Was es auch war, es zeigte den Unmenschen, welche die Jüdinnen und Juden ihres Besitzes beraubten, ihre Familienmitglieder auf die schlimmste industriell-dystopische Art und Weise ermordeten, dass ihnen auch unter größter Deprivation die eigene Menschlichkeit nicht genommen werden konnte.

Endlösung der Eichmann-Frage

Siebzehn Jahre nach Auschwitz fand sich das jüdische Volk in einer gänzlich anderen Situation wieder. Das Trauma saß nach wie vor tief, doch man hatte eine neue Position eingenommen, eine Position der Stärke. Die existenzielle Bedrohung blieb zwar, jedoch konnte der kleine jüdische Staat Israel, entgegen aller Erwartungen und Vernichtungserklärungen umliegender arabischer Nationen, überleben. Eine andere Wahl hatte er ohnehin nicht. Dieser wehrsame kleine Flecken Landes, der in seiner Größe ungefähr Niederösterreich entspricht, hatte nun die geheimdienstlichen Kapazitäten, um sich Verantwortungen zu widmen, denen der Rest der Welt nicht nachkommen wollte: In einer sensationellen Entführungsaktion gelang es dem Mossad, den nach Argentinien geflohenen Adolf Eichmann zu fassen und nach Israel zu bringen. Der Mann, der maßgeblich für die Deportation und Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden verantwortlich war, befand sich von einem Moment auf den anderen auf der Anklagebank der Nation jener Menschen, die er versucht hatte, auszulöschen. Die Entführung, die Anklage und das letztendliche Todesurteil symbolisieren gemeinsam eine Emanzipierung des jüdischen Widerstands aus dem Reaktiven in das Proaktive. So fand Eichmann als Antwort auf die Frage, mit dessen “Endlösung” er beauftragt wurde, letztendlich sein eigenes Ende.

Kryptojuden

Einige wenige Jüdinnen und Juden erhalten bald oder erhielten in letzter Zeit die portugiesische oder spanische Staatsbürgerschaft. Dies ist deshalb bemerkensund erwähnenswert, da es sich hierbei nicht um neue Einwanderer:innen, sondern um die Folge einer jahrhundertelangen jüdischen Leidensgeschichte im Zusammenhang mit den Herrscher:innen der iberischen Halbinsel handelt. Bevor praktisch die Gesamtheit der jüdischen Gemeinden Nordafrikas (etwa 500.000 Menschen) im Zuge des Zweiten Weltkriegs oder spätestens nach der Staatsgründung Israels aus diesen Ländern vertrieben wurden oder freiwillig auswanderten, floh die jüdische Bevölkerung aufgrund der Inquisition aus Portugal und Spanien. Trotz dieser enormen Notlage schafften es viele dieser Familien über Jahrhunderte hinweg, ihr Judentum zu erhalten und gleichzeitig Informationen über den eigenen Stammbaum so detailliert zu präservieren, sodass sich 500 Jahre später ein Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft erheben lässt. Andere, sogenannte “Kryptojuden”, verfolgten dasselbe Ziel, wählten jedoch einen anderen Weg. Dieser Begriff, der klingt als entspränge er dem feuchtesten Traum antisemitischer Verschwörungsideolog:innen, beschreibt entgegen aller Erwartungen nicht etwa einen abgetrennten Teil des angeblichen “Weltfinanzjudentums”, welcher sich auf Bitcoin fokussiert, sondern erzählt die Lebensrealität vieler, speziell aus dem spanisch-portugiesischen Raum stammender Jüdinnen und Juden (Kryptos bedeutet auf griechisch “verborgen”; jetzt könnt ihr bei euren Freund:innen angeben, gern geschehen). Im Zuge der Inquisition forderte die spanische Kirche 1492 endgültig alle jüdischen Menschen dazu auf, sich entweder zwangskonvertieren zu lassen oder das Land zu verlassen, nachdem nur rund ein Jahrhundert zuvor deren Vorfahren in Sevilla, Castile und Aragon massakriert worden waren. Von denen die blieben, entschieden sich viele für eine Art des Widerstands, nach der sie zwar nach außen hin christlich auftraten, im Verborgenen jedoch weiterhin ihr Jüdischsein auslebten. So existieren bis heute Gemeinden, welche nach Jahrhunderten des Versteckens direkte Nachfahren solcher “Kryptojuden” hervorbrachten, mit denselben sephardischen Traditionen – nicht als Katholik:innen, sondern als Jüdinnen und Juden.

Der gemeinsame Nenner

Was also bedeutet das im Jahr 2022? Können Jüdinnen und Juden, die heute Widerstand leisten, sich überhaupt in eine Reihe mit Größen wie Mordechaj Anielewicz oder der mutigen Hannah Szenes stellen, oder wäre das anmaßend? Kann man sich mit einem vergleichsweise privilegierten Hintergrund überhaupt nur im geringsten vorstellen, was es bedeutet, so sehr nach Freiheit und Selbstbestimmung zu streben, wie die oben erwähnten? Vermutlich nicht. Dennoch besteht die Verpflichtung, ihnen zu gedenken, sie bekannt und sichtbar zu machen! Denn nur dank ihnen besteht die Möglichkeit, das Judentum und die Freiheit der Wahl zu leben. Ob orthodox, atheistisch oder traditionell. Das war und ist keine Selbstverständlichkeit. Der Widerstand ist etwas zutiefst Jüdisches.

Darüber hinaus besteht die Verantwortung, genau dieses Privileg den kommenden Generationen des jüdischen Volkes zu ermöglichen. Denn letztendlich verbindet die Mehrheit der oben genannten

Widerstandsbestrebungen ein entscheidender Faktor: Der Wunsch nach Selbstbestimmung und die Reaktion darauf, wenn einem dieses Recht verwehrt wird. Somit findet der jüdische Widerstand seinen Höhepunkt an dem einzigen Ort, an dem jüdisches Leben selbstbestimmt ist und vor allem bleibt – dem israelischen Staat. Es ist letztendlich der größte und gelungenste Ausdruck eines jahrtausendenlangen Widerstands, da es das eigene Schicksal von der Gunst beziehungsweise Ungunst der europäischen Mehrheitsgesellschaft entkoppelt. Wie die Geschichte auf tragische Art und Weise gezeigt hat, ist dies der einzige Garant eines friedlichen Lebens für Jüdinnen und Juden.

ALON ISHAY & ROBIN KRATZ

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