Rache als jüdischer Widerstand & Widerstand als jüdische Rache

Rache als jüdischer Widerstand & Widerstand als jüdische Rache

Was wäre wenn?

Die Luft trägt eine Schwere, die du nicht deuten kannst. Dein Atem fügt sich deiner Herzfrequenz – heiß pulsierend, immer schneller. Kann es das sein? Dein Blick lastet hilflos auf deinen Schuhen – Ferse, Ballen, Zehen, Schritt – heiß pulsierend, immer schneller. Du bittest und betest, dass dem nicht so ist. Du näherst dich deinem Zuhause – dem Ort, der den intensiven Duft von Wohlbefinden und Wärme bewahrt. Ein Ort purer Geborgenheit, geschützt vor dem Rest der Welt. Jener Ort, an dem jeder Tag wieder seinen Sinn erlangt, an dem du dich erdest. Der Ort, an dem das Wertvollste und dir Liebste auf dich wartet: deine Familie.

Du trittst ein, dein Blick nach wie vor starr auf den Boden gerichtet, ohnmächtig ihn zu heben. Sie sind weg. Für immer weg.

Die Verfolgung, Entmenschlichung, Folterung und Ermordung von Jüdinnen und Juden während der Shoah löst viele belastende, überwältigende und ungreifbare Emotionen aus. Wie stark und schwer diese Emotionen zu ertragen sein müssen, wenn die Betroffenen dem eigenen Familien- oder Freundeskreis angehören, kann man sich nur versuchen vorzustellen. Welche Gefühle würdest du empfinden, wenn deine gesamte Familie ermordet worden wäre? Wut? Trauer? Schock? Angst? Oder vielleicht doch ein Verlangen nach Rache?

Exodus 21:23-25

Doch wie genau wird Rache definiert und wie überdeckt jene Definition den Begriff der jüdischen Rache oder sind hier andere Komponenten mit einzubeziehen, die die negative Konnotation der Rache aufheben? Mit anderen Worten: Fällt die Suche nach Gerechtigkeit für sechs Millionen unschuldig Ermordete wirklich unter den Begriff Rache?

Rache, eine von Emotionen geleitete Tat mit dem Bestreben danach, einer zuvor als Unrecht empfundenen Handlung entgegenzuwirken, um so den Zustand der Genugtuung zu erlangen – sich diesem zumindest anzunähern. So wie du mir, so ich dir. So wie das deutsche Volk uns, so wir dem deutschen Volk?

Die Stigmatisierung der schwachen Jüdin und des schwachen Juden, eingesperrt und sich wiederkehrend in einer aufgezwungenen Opferrolle wiederfindend, ist in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs nach wie vor überrepräsentiert. Allerdings wird hier auf die existierende laute Stimme von Jüdinnen und Juden zu jener Zeit vergessen. Tatsächlich gab es nämlich zahlreiche jüdische Gruppen sowie jüdische Einzelpersonen im aktiven Widerstand gegen das NS-Regime.

Say “Auf Wiedersehen‘” to your Nazi balls!

Ein Spielfilm, der dieser aktiven Rolle im Widerstand in Form von Rache eine Gestalt gibt, und so im Gegensatz zu den meisten anderen Filmen über den Zweiten Weltkrieg die jüdischen Protagonist:innen laut und stark, mutig und wehrhaft darstellt, heißt Inglourious Basterds. Quentin Tarantino kreiert durch die Erschaffung seiner Figuren ein anderes, befriedigenderes Ende des Zweiten Weltkriegs. Ob als Mitglied der “Inglourious Basterds” Nazis aufsuchend, um sie zu skalpieren und für immer durch ein in die Stirn geritztes Hakenkreuz als solche zu markieren oder als Shosanna Dreyfus, das Lebensziel verfolgend, den Mord an ihrer gesamten Familie zu rächen – die Figuren nehmen eine aktive Rolle ein, um den Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu wenden. “Now, that didn’t happen because my characters hadn’t existed but if they had existed, everything would have been plausible.” So lautet die Rache Tarantinos.

Nakam

Anders als bei der zuletzt genannten, fiktiven Form der Rache in der Kunst handelt es sich bei den folgenden Beispielen um tatsächlich existierende Gruppen, deren Ziel es ebenfalls war, NS-Verbrecher in der Nachkriegszeit zur Rechenschaft zu ziehen. Nakam (hebräisch für Rache) war etwa ein Bündnis von teils Holocaust-Überlebenden Jüdinnen und Juden, welche von dem jüdischen Widerstandskämpfer Abba Kovner mitbegründet wurde, deren Racheakte allerdings fehlgeschlagen sind. Erst kürzlich wurde der Film Plan A – Was würdest du tun?, basierend auf jenem geplanten Rachefeldzug, veröffentlicht.

Anderen gelang es jedoch, ihre Vergeltungsmissionen auszuführen, darunter der jüdischen Geheimtruppe, der Fredl Müller angehörte.

Sie bestand aus ungefähr 40 jungen, jüdischen Soldaten und machte in den ersten Wochen nach Kriegsende ca. 700 Täternamen ausfindig, von denen ungefähr 100300 hochrangige SS-Offiziere sowie Gestapo-Männer in zahlreichen Aktionen von ihnen getötet wurden. Als britische Soldaten getarnt wurden jene NS-Verbrecher aufgesucht, entführt und hingerichtet. Die aufgefundenen NS-Verbrecher wurden unter anderem in Wälder entführt, aufgefordert, gleichermaßen wie Jüdinnen und Juden auch, ihre eigenen Gräber zu schaufeln und daraufhin erschossen. Andere wurden, durch Tätowierungen ihrer Blutgruppe, wie es für SS-Offiziere üblich war, als solche erkannt und in Gletscherspalten gestoßen oder ertränkt.

Liberman oder aggressiver Jude?

Einer, der ebenfalls Unrecht nicht auf sich sitzen lässt, ist der Protagonist des Kurzfilms Masel Tov Cocktail, Dima Liberman. Dima, der eigentlich nicht erkennbar jüdisch ist, leitet uns durch die alltäglichen Hürden einer Jüdin oder eines Juden im Deutschland des 21. Jahrhunderts. So werden beispielsweise die Frage nach der eigenen Identität und die von Vorurteilen geprägte fremde Identitätszuschreibung thematisiert. Weitere Aspekte, die hier behandelt werden, sind ein stereotypisches Denken auch in Bezug auf Verschwörungstheorien, die Shoah als primäre und meist einzige Assoziation mit dem Judentum, die Lücken der Bildungs- und Aufarbeitungskultur, die Problematik der scheinbaren rechten Philosemit:innen, die ihre Islamophobie hinter ihrer vorgespielten, wiedergefundenen Liebe zum Judentum verstecken sowie der moderne Antisemitismus, der vielfältiger nicht sein könnte. Und nicht zu vergessen, die Thematik der Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Racheakte. Denn nach einer antisemitischen Bemerkung eines Mitschülers spielt Dima nicht den gepeinigten Juden in Schwarz-Weiß, sondern schlägt zurück und bricht seinem Gegenüber die Nase. Es wird von Dima verlangt, sich zu entschuldigen. Ist Dima also der Böse, weil er sich gegen Antisemitismus gewehrt hat? Letztlich übertönt das eigene reine Gewissen Dima Libermans, der für sich selbst und seine Werte einsteht, die Fremdzuschreibung eines aggressiven Juden.

Das ist jüdische Rache

Nun, wie wir sehen, ist Rache vielfältig möglich. Nicht jede Rache ist für jede:n Rache. Dies hängt stark von der Perspektive der Betrachtung ab. Im Gegensatz zu den hier genannten Racheakten können diese auch gewaltlos erfolgen. Jüdische Rache ist allein schon die Tatsache, dass das jüdische Volk stets existiert, stark steht, sich vervielfältigt und nicht einschüchtern lässt. Jüdische Rache ist Zusammenhalt. Jüdische Rache sind laute, junge, jüdische Stimmen. Dieses Magazin, dieser Text allein ist jüdische Rache.

MICHELLE BARAEV

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