„Antisemitismus als Krankheit der Zivilisation“

„Antisemitismus als Krankheit der Zivilisation“

Andreas Peham, Rechtsextremimusforscher, Antisemitismusexperte und Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), im Interview über sein neues Buch “Kritik des Antisemitismus”

NOODNIK: Wie bist du zur Antisemitismuskritik gekommen?

Andreas Peham: Das hat mehrere Gründe. Es war eine Mischung aus persönlichen und sozialen Impulsen, also aus politischem, aktivistischem, wissenschaftlichem und auch publizistischem Interesse und Teil eines kollektiven Prozesses in den 90ern in der Wiener Linken. Viele in der Linken haben den Begriff des Nationalsozialismus und die Besonderheiten des Antisemitismus nicht reflektiert, was wir kritisierten. Auch unsere Unzufriedenheit darüber, wie wenig in Österreich bezüglich Antisemitismusforschung passiert, hat dazu geführt, dass wir uns außeruniversitär mit Antisemitismus und der Shoah wissenschaftlich beschäftigten. Wenn man sich wissenschaftlich mit Antisemitismus beschäftigt, kann es meines Erachtens nur einen Zweck verfolgen: Antisemitismus zu bekämpfen.

Mit der Jahrtausendwende kam dann unter anderem der islamisierte Antisemitismus hinzu bzw. der „Neue Antisemitismus“, wobei das „Neue“ sich auf die Erkenntnis bezieht, dass Antisemitismus politisch-ideologisch quasi quer drüber liegt und jedes politische Spektrum betrifft.

N: Kannst du uns einen Einblick in deinen Prozess des Schreibens hin zur Fertigstellung deines Buches geben?

AP: Anfangs dachte ich, ich kann das aus dem Ärmel schütteln. Es hat aber dazu geführt, dass ich ganz zurück zum Anfang der Theorieentwicklung ging, sodass ich alles an Primärliteratur gelesen habe, wovon ich manches nur als Sekundärliteratur kannte. Dabei habe ich gemerkt, dass es einige Aspekte gibt, worauf sich so gut wie alle beziehen, die aber falsch zitiert oder rezipiert werden.

Bei der Relektüre von Arendt, Adorno und Horkheimer, der Kritischen Theorie, der Elemente des Antisemitismus (Dialektik der Aufklärung) hat mich überrascht, dass problematische Aspekte dieser Texte mir davor so nicht bewusst waren.

Es war sehr wichtig, diese Texte nochmal kritisch zu lesen, dadurch war der Umfang aber eher der einer Dissertationsarbeit, und dementsprechend lange hat es gedauert.

N: Welche verschiedenen Funktionen erfüllt Antisemitismus?

AP: Antisemitismus fungiert als alles erklärende Weltanschauung, in der die inneren und äußeren Konflikte der Zivilisation auf einen einzigen, absolut bösen Feind, der die Welt beherrscht und im inneren die Gemeinschaft zersetzt, projiziert werden. Da wäre die individuelle Ebene (Mikroebene), hier dient der Antisemitismus der Schiefheilung von inneren/neurotischen Konflikten und Ängsten, die in engem Zusammenhang mit äußeren Konflikten und Bedrohungen stehen, aber auch innere Konflikte nach außen verschieben und projizieren.

Für Sartre haben Antisemit:innen nicht Angst vor realen Jüdinnen und Juden, aber sie haben sehr wohl Angst vor ihren eigenen wahnhaften, paranoiden Projektionen auf Jüdinnen und Juden. Sartre meint eine existenzielle Furcht, die in Verfolgungsangst umgewandelt wird und damit eine psychische Entlastung verspricht, das ist die eine wichtige Funktion.

Dann gibt es die Vergemeinschaftungsfunktion, die wiederum Stärke gibt und entlastet. Stärke und Macht verspricht der Antisemitismus auch in seiner Eigenschaft als Welterklärung.

Auf der Makroebene dient der Antisemitismus als „Blitzableiter“ der sozialen Aggression, die eigentlich der Herrschaft gilt und auf Jüdinnen und Juden, die „Sündenböcke“ der Moderne und offenbar auch der Postmoderne, umgelenkt wird.

N: Warum werden Jüdinnen und Juden in einem antisemitischen Weltbild als allmächtig imaginiert?

AP: Hier ist das historische Argument wichtig und diese Frage nur mit der Kontinuitätsthese beantwortbar:

Nur weil Jüdinnen und Juden seit ihrem „Urverbrechen“, dem „Gottesmord“, über Jahrhunderte mit teuflischer Macht ausgestattet waren, konnten sie zu „Weltverschwörern“ werden. Aber oft wird diese Wahnidee aus der damaligen Gegenwart im 19. Jahrhundert erklärt und etwa die (antisemitisch verzerrte) Wahrnehmung der Rothschilds zu ihrer Ursache gemacht. Auch die Überrepräsentanz in bestimmten (akademischen) Berufen ist selbst eine Folge des Antisemitismus und kann darum nicht zu seiner Erklärung dienen.

N: Auch die Linke kann sich von Antisemitismus nicht freisprechen. An welchen Punkten tritt linker Antisemitismus besonders zutage?

AP: Da ist einerseits der Antizionismus, das Absprechen des nationalen Selbstbestimmungsrechtes für Jüdinnen und Juden. Andererseits grassiert vielerorts ein personalisierender und moralisierender Antikapitalismus, der an der Oberfläche oder dem Schein der Verhältnisse verhaftet bleibt und zu Recht in den Verdacht gerät, zumindest strukturell antisemitisch zu sein.

N: Um gleich an strukturellen Antisemitismus anzuschließen: Inwiefern hat das frühmarxistische Verständnis des Kapitalismus mit der Assoziation von Jüdinnen und Juden mit Finanzwirtschaft bis heute Kontinuität?

AP: Jene Linken, die nicht bereit oder fähig waren, mit Marx zur Kritik der politischen Ökonomie weiterzugehen, vermochten sich nicht von diesem Makel freizusprechen. Noch die Kritische Theorie und insbesondere Horkheimer waren anfangs nicht frei von solchen falschen Verknüpfungen. Offen assoziieren Linke heute nicht mehr „Juden“ und Zirkulation, aber in vielen Erklärungsversuchen des Antisemitismus lebt diese Tradition fort, etwa wenn behauptet wird, Jüdinnen und Juden wären im Mittelalter allesamt oder vor allem im Geldhandel tätig gewesen.

N: Warum muss Gesellschaftskritik, wenn sie einem emanzipatorischen Anspruch gerecht werden möchte, auch Antisemitismuskritik beinhalten?

AP: Das hat den Grund vor allem darin, dass – wie es von Seiten der Kritischen Theorie heißt – die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, oder sagen wir die warenförmige, wertförmige Gesellschaft selbst antisemitisch strukturiert ist. Sie ist das auch und vor allem als Nachfolgerin und Erbin der christlichen Gemeinschaft, deren Mythen sie oft nur säkularisiert hat.

Und hierzulande muss Kritik der Gesellschaft eben jene als eine postnazistische begreifen, und dies ist ohne Kritik des Antisemitismus nicht machbar. Gesellschaftskritik beraubt sich quasi ihres eigenen Versprechens, wenn sie den Antisemitismus nicht im Blick hat und bekämpft, wie bereits Adornos Kategorischer Imperativ nach Auschwitz besagt.

N: Du schreibst in deinem  Buch „niemand

»wird frei« sein[…]“, „niemand [wird] »sicher sein, solange ein Jude […] um sein Leben zittern muss«“

AP: Das Zitat ist von Sartre und das sage ich auch in Vorträgen immer: Ich bin nicht jüdisch, aber eine Gesellschaft, in der es keinen Antisemitismus und Rassismus gibt, ist eine Gesellschaft, in der ich mich selbst auch wohler fühle.

Also neben der Solidarität und Verbundenheit ist es mein ureigenes Interesse, in einer Gesellschaft zu leben, in der es um die Rechte und Freiheiten von Jüdinnen und Juden besser bestellt ist, denn das heißt auch, dass es um meine Rechte und Freiheiten besser bestellt ist.

“Kritik des Antisemitismus” ist in Kooperation mit Theorie.org erschienen und ist seit dem 21.1.2022 im Handel erhältlich.

INTERVIEW: AARON KUMNIG & ARIEL SIMULEVSKI

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