>>Von Hanau bis Gaza<< großes Schweigen über Antisemitismus

>>Von Hanau bis Gaza<< großes Schweigen über Antisemitismus

Rechtsextreme und jihadistische Terrorist:innen haben ein antisemitisches Weltbild. Warum wird in der öffentlichen Debatte über Terrorismus aber nur so wenig über Antisemitismus und antisemitische Tatmotive gesprochen?

Die zunehmende Verbreitung antisemitischer Verschwörungserzählungen und der Anstieg antisemitischer Ressentiments in weiten Teilen der Bevölkerung bilden den Nährboden für Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. In Anschlägen auf jüdische Institutionen und Personen, die als jüdisch identifiziert werden, entlädt sich seit jeher eine antisemitische Dynamik, die bereits zuvor in den jeweiligen Echokammern der antisemitischen Täter:innen vorbereitet wurde. Es sind Ereignisse wie der versuchte Anschlag auf eine Synagoge in Halle 2019 oder die im Jänner dieses Jahres stattgefundene Geiselnahme in einer Synagoge in Colleyville, Texas, die ein Klima der Angst und Verunsicherung in jüdischen Gemeinden verbreiten sollen. Antisemitismus und antisemitische Tatmotive bilden die ideologische Grundlage für vor allem rechtsextremen und jihadistischen Terror, selbst dort, wo dieser nicht explizit jüdische Einrichtungen zum Ziel hat. Zugleich wird Antisemitismus in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Terrorismus kaum thematisiert, obwohl dies dringend notwendig wäre.

Verweigerung der Auseinandersetzung mit Antisemitismus

Gerade in Zeiten der Krise kann eine Zunahme an antisemitischen Übergriffen festgestellt werden, die zugleich auf eine traurige Normalität verweist, die in der breiten Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit erfährt: Öffentliches jüdisches Leben in Europa und darüber hinaus kann nur durch strenge Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Die Normalität einer durch Antisemitismus durchzogenen Gesellschaft müssen Jüdinnen und Juden mit einem Leben im latenten Ausnahmezustand bezahlen. Antisemitismus ist ein globales Phänomen, das sich quer durch alle politischen Lager und gesellschaftlichen Diskurse zieht und Jüdinnen und Juden als Ursprung allen Übels in der Welt ausmacht. Antisemitisch motivierter Terrorismus ist ausgehend davon eine Bedrohung, mit der sich jüdische Gemeinden auf der ganzen Welt auseinandersetzen müssen – nicht zuletzt auch in Israel. Neben jenen, die ihren Antisemitismus offen zur Schau stellen, ist der gesellschaftliche Diskurs vor allem durch die Verweigerung Vieler gekennzeichnet, sich mit der eigenen Tradition und Kontinuität des Antisemitismus auseinanderzusetzen. Nicht nur der Antisemitismus selbst schafft in diesem Sinne den Nährboden für Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, sondern auch die Verdrängung und Leugnung einer Gesellschaft, die glaubt, sich diesem entledigt zu haben oder sich weigert, ihn dort zu sehen, wo er offen artikuliert wird.

Antisemitismus als Leitidee des internationalen Terrorismus

Der Blick auf die öffentliche Auseinandersetzung mit rechtsextremen und jihadistischen Terroranschlägen in den letzten Jahren verdeutlicht leider die Notwendigkeit, auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und die das 21. Jahrhundert prägenden Formen des internationalen Terrorismus hinweisen zu müssen. Denn Antisemitismus ist nicht ein beliebig austauschbarer Baustein im Weltbild rechtsextremer und jihadistischer Terrorist:innen, sondern integraler Bestandteil und Zentrum ihrer Ideologie. Umso erschreckender ist es, dass antisemitische Tatmotive und explizit jüdische Ziele in der Vergangenheit oft nur am Rande der medialen Berichterstattung thematisiert wurden. Wenig war etwa über das antisemitische Weltbild jener IS-Terroristen zu lesen, die im Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo 2015 einen koscheren Supermarkt überfielen. Auch die Ortswahl des Wiener Attentäters im November 2020 vor den Toren des Stadttempels führte nicht oder nur kaum zu einer Diskussion über islamistischen Antisemitismus und der Reflexion darauf, dass jüdische Einrichtungen ungleich mehr in der Gefahr stehen, Ziel eines Anschlags zu werden.

Selbst jene Anschläge in den letzten Jahren, die nicht explizit jüdische Einrichtungen zum Ziel hatten, wurden von Attentäter:innen verübt, deren wirres Weltbild durch antisemitische Verschwörungstheorien zusammengehalten wird. Das Narrativ der Überfremdung und Islamisierung fußt seit jeher auf der Vorstellung, diese würden gezielt von finsteren Eliten gelenkt, deren Ziel es sei, die ethnische Substanz der autochthonen weißen Gesellschaften zu zerstören. Im Hass auf die moderne Welt, auf liberale Freiheitsrechte und auf vermeintlich „degenerierte Lebensformen“ kommt eine autoritäre Sehnsucht zum Ausdruck, die sowohl in rechtsextremen als auch islamistischen Weltbildern tief verankert ist und in der Regel letztlich „die Juden“ als Verantwortliche ausmacht. Ein kurzer Blick auf die Manifeste der Attentäter von Christchurch und Hanau, eine oberflächliche Auseinandersetzung mit Al-Qaida und ISIS, mit Hezbollah und Hamas reichen aus, um zu erkennen, dass es der Antisemitismus ist, der maßgeblich die ideologische Grundlage für die brutalen Morde an unschuldigen Menschen bildet. Man muss schon gezielt wegsehen, um nicht zu erkennen, dass Antisemitismus der große gemeinsame Nenner des internationalen Terrorismus in seinen zeitgenössisch prägenden Formen ist.

Realitätsfremde Revolutionsromantik

Die Konsequenz jener mangelnden Einsicht in den Zusammenhang zwischen Terrorismus und Antisemitismus ist letztlich dessen Übergehung und Verdrängung. Wenn antiimperialistische und antirassistische Gruppen im Rahmen des Hanau-Gedenkens wiederholt zur Intifada von Hanau bis nach Gaza aufrufen, haben sie unfreiwillig recht, verweisen sie doch auf den Umstand, dass sowohl der Attentäter von Hanau als auch die zahlreichen von der Hamas und dem Islamischen Dschihad in Palästina aufgeheizten „Märtyrer:innen“ auf der Grundlage einer mörderischen und rassistischen Ideologie agierten, deren weltanschaulicher Kern eliminatorischer Antisemitismus ist. Statt dies zu erkennen und zum Gegenstand der Kritik zu machen, schwelgen jene vermeintlich progressiven Bewegungen traditionell in realitätsfremder Revolutionsromantik und verklären jeden Akt des „Widerstandes“ – so reaktionär er auch sein mag – als ein Aufbegehren der unterdrückten „Völker“ dieser Welt gegen einen übermächtigen Feind, der überraschenderweise überproportional oft den Namen „Israel“ trägt. Auch die lange Tradition des linken Antisemitismus und der antisemitischen Terroranschläge, die nach 1945 von antiimperialistischen und linksterroristischen Gruppierungen begangen wurden, werden in weiten Teilen des linken politischen Spektrums gekonnt ignoriert oder bestritten – mit emanzipativer politischer Praxis hat das nichts zu tun. Die weitgehende Verdrängung und Leugnung des „eigenen“ Antisemitismus trifft auf viele vermeintlich progressive Bewegungen leider genauso zu, wie es für die Gesamtgesellschaft gültig bleibt. Es ist nicht verwunderlich, dass in diesem Kontext Antisemitismus und die Frage antisemitischer Tatmotive unterbelichtet bleiben. Diesem Umstand mit Kritik zu begegnen, ist die Aufgabe jeder politischen Kraft, die es mit der Bekämpfung des Antisemitismus ernst meint.

PHILIPP PFLEGERL

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