Der Widerstand ist unser Erbe

Der Widerstand ist unser Erbe

Vom Krieg und einer shomrishen Geschichte

Die letzten Wochen waren die aufregendsten, die ich je hatte. Als aktiver Teil der Jugendbewegung Hashomer Hatzair (kurz Shomer), die ich auch in diesem Beitrag vertreten soll, bereiste ich mit meiner Kvuza (also meinem “Rudel”) die Überreste des „Generalgouvernements des Deutschen Reichs“ im heutigen Polen. Wir besuchten mehrere Konzentrationsund Vernichtungslager sowie Massengräber und Ghettos.

Da der Shomer keine Jugendorganisation, sondern eine Jugendbewegung ist, und die Anreicherung historischer Daten nur von mäßiger Relevanz ist, beinhaltet die Reise nach Polen eben viel mehr als nur das. Primär geht es darum, Geschichte und ihre Zahlen aus erster Hand in jene Werte umzuwandeln, die auch noch heute bedeutsam sind und diese schließlich auch nach Hause mitzunehmen. Es geht darum zu verhindern, dass der Besuch von Auschwitz, gleich dem Besuch eines Museums, ein touristisches Erlebnis wird. Es geht darum zu verhindern, dass Menschen, die an solche Orte fahren, heimkehren und einfach so weiterleben wie zuvor.

So eine Reise dient also als Baustein zur Bildung von verantwortungsbewussten Menschen und kommt der Frage, die ich mir heute stelle, ein wenig näher: Wann soll der Kampf gegen Unrecht beginnen und welche Bausteine sind uns dafür vorgelegt beziehungsweise müssen dafür vorgelegt werden? Möglicherweise findet sich für diese Frage eine richtige Antwort, also ein Zeitpunkt im Leben, ab dem mit diesem Kampf zu beginnen ist. Mit achtzehn kann man offizielles JöH-Mitglied werden also vielleicht ab diesem Alter? Erwachsen ist man aber schon ab der Bar:Bat Mitzwa, aber für Aktivismus können sich die Meisten in diesem Alter eher noch nicht begeistern. Naja…einstweilen lasse ich diese Frage mal offen.

Während unserer Anreise begann die Invasion auf die Ukraine und der Krieg brach aus. Es war der erste Tag unserer Reise, ich saß im Bus auf dem Weg ins Hotel und aktualisierte ständig irgendwelche Nachrichtenseiten. Der Krieg verfolgte uns und belastete zusätzlich die ohnehin schon emotionale und ermüdende Woche. Doch gleichzeitig machte er die Reise noch bedeutungsvoller. Denn plötzlich bildete sich eine Brücke zwischen den Werten, die bis jetzt nur im Abstrakten, in unseren Worten und Gedanken existierten, und realen Menschen, die heute leben, heute leiden und sich heute in Todesgefahr befinden.

Binnen weniger Stunden starteten wir eine internationale Spendenaktion. Bis heute wurden mehrere zehntausend Euro gesammelt, die anschließend in Form von Benzin, Kleidung, Nahrung und vielem mehr zu Familien in Charkiw und in das Lager für Geflüchtete in Polen gebracht wurden.

In diesem Falle wurde uns „Aktivismus“ praktisch vor die Füße geworfen. Wie zuvor erwähnt, war diese Kontextualisierung für uns alle glasklar.

Ich beneide diejenigen, die nach einer Reise nach Auschwitz heimkehren können und dann – Nichts. Diese Verbindung zwischen dem, was man für richtig hält und dem, was man dann auch tut, geht leider so oft verloren. Genau hier springt der Shomer ein. Seit der Gründung ist der Shomer aktiv und vermittelt den kommenden Generationen die Ideen und Werte, die zum Aufstand im Warschauer Ghetto führten. Ein wesentlicher Bestandteil des Aufstands war Hoffnung. Mit wahrlich unzureichenden militärischen Ressourcen wurde der Kampf gegen die Deutschen mehrere Tage lang geführt.

Bis zur letzten Minute blieben die jüdischen Kräfte standhaft und gaben nicht auf. Nicht nur, weil die Hoffnung tief im Kern ihrer Seelen eingraviert war, sondern auch, um Hoffnung zu verbreiten. Genau diese Hoffnung, diese Inspiration ist das, was uns heute handeln lässt. Jedoch ist es nicht nötig, bis nach Warschau zu schauen, um shomrischen Aktivismus im Zweiten Weltkrieg zu finden; dieser breitete sich weit über die Mauern des dortigen Ghettos aus – sowohl paramilitärisch, als auch in einer Vielzahl anderer Formen waren wir aktiv, und das in ganz Europa.

In Wien spielte der Shomer ebenfalls eine signifikante Rolle – Stichwort Jugendalijah. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland wurden die wichtigsten jüdischen, zionistischen Jugendorganisationen und -bewegungen zum “Zionistischen Jugendverband” zusammengeschlossen. Dessen Aufgabe war es, primär Jugendliche auf die Alijah (also die Einreise in das damalige Palästina) vorzubereiten. Dazu fanden Aktivitäten rund um landwirtschaftliche Arbeit, aber auch um das Übermitteln jahrhundertealter jüdischer Tradition statt. All das inmitten von Wien.

Martin Vogel, der zu dieser schweren Zeit den Shomer in Wien leitete, und dann später den Jugendverband, beschrieb das Gebäude als einen Ort, an dem “jüdische Kinder noch Kinder sein durften.” Die Jugendalijah rettete hunderten von Kindern das Leben und ihre Organisationsverantwortlichen entschieden sich im Wissen um die bestehende Gefahr – nicht nach Palästina zu fliehen, sondern die Alijah für andere möglich zu machen. Die Marc-Aurel Straße 5 ist auch als Haus der Hoffnung bekannt, es zieht sich also ein roter Faden durch diese Geschichten. Von Warschau bis nach Wien, von Naganes zu Kindertransporten. Die Geschichte der Bewegung zeigt, dass Hoffnung und Widerstand immer das Resultat unserer Schriften, Lieder und Fahnen sind!

Wenn der Shomer es in einer so aussichtslosen Situation schaffte zu kämpfen und Tausenden als Vorbild zu dienen, dann bleibt gegenwärtig kaum Raum, seine Faulheit und Ich-bezogenheit zu rechtfertigen. In der Realität lassen diese „Charakterzüge“ natürlich auch auf das globale Gesellschaftsbild schließen.

Denn in unserer Gesellschaft wird es dem Individuum praktisch unmöglich gemacht, konsequenzlos aus dem Arbeitsbzw. Schulalltag auszubrechen; unser Alltag ist meist so genau getaktet, dass jeder Umweg als negativer Ausbruch verstanden wird. In Krisenzeiten wie diesen kommt das den Leidenden nicht besonders zugute. Was ich jedoch in meiner Arbeit in der Bewegung gelernt habe ist, dass Engagement und Solidarität zweifellos in der Natur Jugendlicher liegen, es fehlt ihnen nur der Raum dazu. Daher ist es, selbst wenn es nur einmal die Woche und nur für einige Stunden ist, wertvoll – und genau das macht der Shomer. Er fordert diesen Raum zurück.

Um auf die oben aufgeworfene Frage zurückzukommen, wann nun der richtige Zeitpunkt für Aktivismus sei: Aktivismus ist immer schon ein Teil von uns, es gilt diesen nie zu vernachlässigen und es gilt, einen Raum zu schaffen, in dem alle ihren Teil beitragen können. Im Kontext der jetzigen Situation in Europa hieß das für uns, das ganze Shomer-Programm auf genau diese Vielfalt im Handeln auszurichten. So verpackten und beschrifteten die einen Sachspenden, andere entwarfen einen Nachrichtenbeitrag und sogar unsere Jüngsten halfen beim Schreiben von Solidaritätsnachrichten mit.

Es gibt kein Mindestalter für Aktivismus, im Gegenteil: Verantwortung und Menschlichkeit sind Werte, die uns nicht beigebracht werden müssen, sondern uns entwendet wurden. Kämpfen heißt also auch, dafür zu sorgen, dass dieser Geist bei den Jüngsten von uns nie verloren geht.

IMMANUEL TURKOF

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