Israel – (K)ein Ergebnis der Shoah?

Israel – (K)ein Ergebnis der Shoah?

Heutzutage wird die Gründung des Staates Israel im Rückblick oft als Antwort auf die Shoah verstanden. Und obwohl der Holocaust der Höhepunkt des Judenhasses in Europa war und die Unmöglichkeit einer Koexistenz ohne Selbstbestimmung endgültig bewies, ignoriert diese Auffassung den historischen Kontext und die Bestrebungen des jüdischen Volkes vor der Shoah. Denn diese Unmöglichkeit war schon Jahrzehnte vor dem Fall der Weimarer Republik und den ersten Deportationen bekannt.

Der Fakt, dass der erste zionistische Kongress schon 1897 stattfand, dass erste Migrationswellen schon länger das Land besiedelten und eine Agrargesellschaft aufbauten und dass von internationalen Akteuren Versprechen auf einen eigenen Staat gegeben wurden, wird im Diskurs über die Entwicklung des Staates Israel oft übersehen. Um die Staatsgründung zu verstehen, muss man sie also deutlich klarer kontextualisieren. Von den Aktivist:innen zu den Einwanderungen bis hin zu den historischen und geographischen Gegebenheiten, vor denen sie flüchteten.

Antisemitismus als roter Faden europäischer Geschichte

Um die Entwicklung des zionistischen Gedankengutes des frühen 20. Jahrhunderts zu verstehen, müssen wir sie mit der antisemitischen Geschichte Europas verknüpfen. Der Kontinent war schon Jahrhunderte vor Leuten wie Lueger von tiefem Antisemitismus geprägt. Der Judenhass etablierte sich schon sehr früh und war ab dem ersten Jahrtausend ein fixer Bestandteil der Kultur europäischer Gesellschaften. Die Anschuldigungen des Gottesmordes und der Brunnenvergiftung, die Pogrome, die Ausgrenzungen und die Massaker sind schon seit über einem Jahrtausend eine schmerzhafte Realität des jüdischen Lebens. Obwohl das Aufkommen des aktiv politischen Antisemitismus erst ein Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts war, ist diese Art Politik nur eine logische Folge der schon seit Jahrhunderten existierenden, festgefügten gesellschaftlichen Ressentiments.

Ähnlich ist der Zionismus ein eher jüngeres Phänomen, welches sich mit dem Aufkommen des politischen Antisemitismus konsolidiert hat. Unter diesem Aspekt kann man sagen, dass der politische Antisemitismus und der Zionismus gesellschaftlich und geographisch denselben Ursprung teilen.

Architektur der Selbstbestimmung

In der Stadt, in der der politische Antisemitismus von Lueger zunehmend erdrückend wurde, vertrat Theodor Herzl klar den Wunsch nach Selbstbestimmung. Ebenso ist es kein Zufall, dass David Ben Gurion und Chaim Weizmann, damals Aktivisten, später Premierminister und Staatspräsident, aus osteuropäischen Regionen kamen, die ebenfalls von starkem Antisemitismus befallen waren.

Diese drei Persönlichkeiten prägten schon lange vor dem katastrophalen Schicksal der 1930er und 1940er Jahre die internationale Bewegung des Zionismus. Sie alle waren Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation.

Herzl leistete seinen Beitrag bei der theoretischen Formulierung des jüdischen Staates. Jedoch waren nicht nur seine schriftlichen Werke bedeutsam. Er war auch mitverantwortlich für den ersten zionistischen Kongress in Basel und somit für die Umsetzung der theoretischen Idee zu einer politischen Weltbewegung. Weizmann hat an diesen Erfolg angeknüpft. Besonders bedeutsam war sein Einsatz für die Besiedlung des Gebietes Palästina. Er setze sich auch stark für einen tatsächlichen Staat ein, statt einer simplen Glaubensgemeinschaft. Er feierte seine größten Erfolge durch seine diplomatischen Dienste in Großbritannien, wie zum Beispiel seinen Beitrag zur Balfour-Deklaration oder der Peel-Commission. Diese schlugen schon 1917 und 1937 eine Teilung des Gebietes für die Gründung eines jüdischen Staates vor. An diesen Deklarationen erkennt man auch, dass die internationale Anerkennung für einen jüdischen Staat schon lange vor 1948 nicht nur diskutiert, sondern quasi entschieden wurde.

Arbeit vor Ort

Im Kontrast dazu war Ben Gurion bedeutsam für die jüdische Gemeinde im britischen Mandat Palästina. In den 1880er Jahren kamen schon erste Einwanderungswellen, die begannen, Agrargesellschaften, Gemeinden und politische Organisationen aufzubauen. Ben Gurion war schon in den frühen 1920ern maßgeblich für die politische Entwicklung des Landes. 1920 zum Beispiel war er Mitgründer der Zionist Labor Federation und von 1921 bis 1935 ihr Vorsitzender. Zu dieser Zeit fungierte er auch als Führer des Yishuv, des jüdischen Gemeinwesens in Palästina vor der Gründung des Staates. Zudem wurde er 1935 Vorsitzender der Jewish Agency, bis er 1948 Israels erster Premierminister wurde.

Am Beispiel dieser drei Männer und ihrer Handlungen sehen wir also, dass die wichtigen Bausteine für die Entwicklung eines unabhängigen jüdischen Staates schon Jahrzehnte vor der tatsächlichen Gründung bestanden.

Korrelation, nicht Kausalität

Somit lässt sich sagen, dass die weitverbreitete Behauptung, den Staat Israel hätte es nicht ohne die Verbrechen der Shoah gegeben, nicht nur falsch ist, sondern auch den politischen Aktivismus, den Zionismus und die ganze physische und geistige Arbeit, die vor dem Nationalsozialismus in Europa und im damaligen Palästina geleistet wurde, ignoriert.

Ohne den Ehrgeiz und das Streben von beeindruckenden Menschen wie Herzl, Ben Gurion, Aktivist:innen und „Siedler:innen“ hätte es überhaupt keinen sicheren Zufluchtsort mit schon präsenter Infrastruktur gegeben, in dem Jüdinnen und Juden Zuflucht hätten finden können, als die Situation in Europa lebensbedrohlich wurde.

Es ist nicht zu leugnen, dass die grausamen Verbrechen der Shoah den Prozess für die Umsetzung des heutigen Israels vorangetrieben haben, jedoch ist es essentiell, sich bewusst zu machen, dass die Grundbausteine für ein Land, in dem Jüdinnen und Juden selbstbestimmt leben konnten, schon davor gesetzt waren. Am 14. Mai 1948 wurde offiziell der Staat Israel ausgerufen und krönte damit die Bestrebungen des jüdischen Widerstandes.

VALÉRIE THAU & MAX THAU

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