Leider kein Widerspruch
Queerfeminismus und Antisemitismus
Der Mai 2021 hat bei vielen jüdischen Aktivist:innen tiefe Wunden hinterlassen. Vor etwa elf Monaten erlebten wir eine Welle des antisemitischen Hasses, die Jüdinnen und Juden in Europa und darüber hinaus überrollte. Vor Synagogen wurden Rufe wie „Scheiß-Juden“ laut, jüdische Personen, die in der Öffentlichkeit standen, wurden zur Zielscheibe im Internet, und auf zahlreichen Demonstrationen wurde wieder einmal zur Vernichtung des Staates Israel aufgerufen. Für viele junge Jüdinnen und Juden markierte diese Zeit einen Reality Check, denn wir erlebten, was wir zuvor nur aus Erfahrungsberichten älterer Aktivist:innen kannten: Was auch immer in Israel und Palästina passiert, hat schwerwiegende Folgen für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt.
Besonders schmerzhaft schien die Erkenntnis, dass viele Räume, die zuvor die Bezeichnung „Safe Space“ getragen hatten, sich als ganz und gar nicht sicher für uns herausstellten. Dabei berichten jüdische Aktivist:innen seit Jahren über den Antisemitismus, dem sie in progressiven, oft queerfeministischen und linken Räumen begegnen. Nun musste auch die junge Generation sich die Frage stellen, wie es sein kann, dass ausgerechnet in Räumen, in denen Gerechtigkeit und Intersektionalität verhandelt werden, so wenig Sensibilität für die Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden besteht.
Queers 4 Hamas
Es bedarf keiner langen Recherche, um festzustellen, dass bereits viele Autor:innen, Wissenschaftler:innen und Journalist:innen vor mir versucht haben, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren, und auch die Liste der Vorfälle, die man dabei beachten könnte, ist lang.
Fangen wir vor zehn Jahren an: Im Mai 2012 verkündete die Stadt Frankfurt am Main, dass die Philosophin Judith Butler den Theodor Adorno Preis bekommen sollte. Butler, die unter anderem mit ihrer Schrift Gender Trouble einen enormen Beitrag zur Gründung der queerfeministischen Theorie geleistet hat, ist gleichzeitig eine der prominentesten Stimmen, wenn es um den Boykott Israels geht. Darüber hinaus betrachtet die Theoretikerin die Terrororganisationen Hisbollah und Hamas als
„linksgerichtete soziale Bewegungen, die auch zu einer weltweiten linken Bewegung gehören“. Die Bekanntgabe löste einen Skandal aus. Zahlreiche deutsche Intellektuelle meldeten sich zu Wort, um Butler zu verteidigen. Darunter etwa der Historiker Michael Wolffsohn, der die Debatte mit den Worten „viel Wind um nichts“ beschrieb. Viel Wind um nichts? Sind das die passenden Worte, um zu beschreiben, wie es um jüdisch-zionistische Positionen und Proteste innerhalb der deutschen Linken steht?
Antisemitismus als blinder Fleck
Dabei ist die Causa Butler längst nicht der einzige Vorfall der letzten zehn Jahre, der zeigt, dass jüdische Perspektiven nicht mitgedacht werden.
2015 entsteht ein wichtiges feministischantirassistisches Bündnis: das Bündnis #ausnahmslos, das eine konsequente Auseinandersetzung mit Geschlechterstrukturen, struktureller Macht und problematischen Männlichkeitsbildern fordert. Der Auslöser ist die sogenannte “Silvesternacht von Köln”, bei der es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen rund um den Kölner Hauptbahnhof kam. Die Geschehnisse dieser Nacht hatten rechtspopulistische Forderungen der Großen Koalition zur Folge, welche die sexuelle Gewalt ausschließlich auf die Herkunft und Religion der Täter zurückführten. Das Bündnis #ausnahmslos forderte dementgegen eine konstruktive Debatte über Sexismus und Rassismus. Die Initiatorinnen sind die Feministin Anne Wizorek, die Autorin Kübra Gümüşay und die britische Journalistin Laurie Penny. Letztere ist auch für die Aussage „nichts ist gruseliger als Zionismus“ bekannt.
Die Amadeo Antonio Stiftung veröffentlichte anschließend ein Statement, in dem sie nicht nur Kritik an der BDS-Nähe einiger Unterzeichner:innen übte, sondern auch daran, dass Antisemitismus als Erfahrung von Jüdinnen und Juden nicht mitgedacht worden sei. Die Initiator:innen und Mitunterzeichner:innen reagierten auf die Kritik mit Unverständnis. Die üblichen Ausreden wurden gefunden: Es handle sich bloß um Kritik an Israel und nicht um israelbezogenen Antisemitismus und überhaupt habe man sich nicht genug mit dem Thema beschäftigt. Dies wolle man aber nachholen und sehe es als Chance, den blinden Fleck Antisemitismus zu bearbeiten.
Sechs Jahre später, im Mai 2021, standen junge Jüdinnen und Juden vor der Erkenntnis, dass nichts bearbeitet worden war. Antisemitismus wird bis heute immer wieder vergessen und nicht als mögliche Intersektion wahrgenommen. Jüdische Perspektiven werden nicht mitgedacht und wenn es sich um zionistisch-jüdische Perspektiven handelt, sind sie in den meisten Räumen nicht willkommen. Kaum jemand versteht, wo Kritik an der israelischen Politik aufhört und israelbezogener Antisemitismus anfängt. Wo also haben linke, feministische und queere Jüdinnen und Juden noch Platz? Viele organisieren sich bereits selbst und schaffen ihre eigenen Räume, um Safe Spaces zu haben, in denen sie vor antisemitischer Gewalt sicher sein können. Obwohl das auf kurze Sicht Erleichterung schafft, ist diese Entwicklung auf Dauer gefährlich und nicht tragbar. Der intersektional-feministische Kampf kann nur gelingen, wenn er auch gegen Antisemitismus geführt wird und diesen in sein Denken und Handeln integriert. Intersektionale Analysen von Machtverhältnissen müssen endlich Jüdinnen und Juden, die noch nie zur weißen Dominanzgesellschaft gehört haben, inkludieren.
HANNAH VEILER