Woker Antisemitismus

Woker Antisemitismus

Blinde Flecken intersektionaler Debatten

Ich liege mit schwerem Kopf im Gras, die Sonne blendet meine Augen. Um mich herum tummeln sich Freund:innen; nachher wollen wir gemeinsam auf die Black Lives Matter-Demo. Noch vom Vorabend verkatert, liegt das intellektuelle Niveau beim Ranking der besten Kochsendungen. Um bei der eben kennengelernten Frau mit einem Tipp zu punkten, empfehle ich ihr die Reihe „So isst Israel“ – die Dokureihe ist nach wie vor meine Nummer 1. Leider ist ihr Gesichtsausdruck unbeeindruckt und dann fast ein wenig angeekelt. Könnte es sein, dass sie Hummus hasst? Während ich noch darüber nachdenke, ob Hummus wohl die Avocado als Trendfood ersetzt hat, fragt sie mich, ob ich eine Antideutsche wäre, und schafft es, ein erstaunliches Maß an Abfälligkeit in den Begriff zu legen. Die Antideutschen sind eine politische Strömung innerhalb der radikalen Linken im deutschsprachigen Raum, deren Anliegen u. A. Solidarität mit Israel ist. Es geht wohl nicht um Hummus, sondern um Israel. Ich überlege kurz, ob ich antworten soll, dass ich Jüdin bin, aber meine verkaterte Kosten-Nutzen-Rechnung sagt: Nein.

Ich entscheide mich bewusst dazu, einer womöglich unangenehmen Diskussion aus dem Weg zu gehen. Doch woher kommt das? Wie kann es sein, dass man immer wieder das Gefühl bekommt, jüdische Stimmen werden nicht gehört, während im selben Atemzug gesagt wird, man solle Betroffenen zuhören?

Die Juden wollen nicht so recht in eine Kategorie passen

Antisemitismus stellt in intersektionalen Debatten noch immer eine Leerstelle dar. Jüdischsein wird also im intersektionalen Sinne oft nicht als Form der Unterdrückung anerkannt. Wenn es um Jüdinnen und Juden geht, dann meist um die Toten. Den durch die Hand der Nationalsozialist:innen Ermordeten wird mindestens einmal im Jahr gedacht. Die Lebenden wiederum werden eingeteilt in gute und schlechte. Die Guten, die laut genug „Free Palestine“ schreien, werden eher in linken Räumen willkommen geheißen, während die Schlechten, welche betonen, dass Israel für sie immer ein sicherer Hafen bleiben wird, vor die Türe kommen.

Der geliebte Antizionismus

Während einerseits in intersektionalen Debatten betont wird, wie wichtig es ist, Betroffene sprechen zu lassen, wird das Zuhören, wenn sich Jüdinnen und Juden in Bezug auf Israel zu Wort melden, gerne Auslegungssache. Statt ernsthaftes Interesse an jüdischen Positionen zu zeigen, auch an jenen, die das nationale Selbstbestimmungsrecht von Jüdinnen und Juden verteidigen, wird gerne reflexartig mit Begriffen wie „Apartheid” um sich geworfen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Amnesty International-Bericht vom Februar 2022, welcher Israel dämonisiert, als „Apartheid-Regime“ darstellt und durchaus unkritisch von linker Seite begrüßt wurde. Zugleich wird selbst die unverhältnismäßigste Kritik am Staat Israel gerechtfertigt und der als Antizionismus getarnte Antisemitismus verteidigt. So musste man sich bei der kürzlich stattgefundenen antifaschistischen Demonstration anlässlich des Hanau-Gedenkens in Kreuzberg fragen, wie es dazu kommen konnte, dass ein gesamter Block „Yallah Intifada – von Hanau bis nach Gaza“ brüllte. Oder auch die linke Twittergröße Nicole Schöndorfer, welche mit den Worten “Schade, dass free them all und abolition hier tendenziell nicht für palästinensische Gefangene gilt, weil this prison break is glorious” den Ausbruch von Mitgliedern der Terrororganisation Islamischer Dschihad in Palästina im September 2021 feierte. Sie behauptet, ihre Social-Media-Richtlinie wäre die Zerschlagung des Patriarchats, aber beim Durchscrollen ihrer Twitterseite erweckt es den Eindruck, dass sie Israel als Hauptfeind auserkoren hat. Denn der kleinste gemeinsame Nenner mit den von ihr gefeierten Terroristen ist Israelhass – und bestimmt nicht Feminismus.

Wenn Israel nicht schuld ist, dann vielleicht die Rothschilds?

Doch auch abgesehen von israelbezogenem Antisemitismus, stolpert die Linke gerne über antisemitische Fallstricke. So zum Beispiel im Falle von verkürzter Kapitalismuskritik und dem damit verbundenen strukturellen Antisemitismus. So trugen Mitglieder der linksjugend [solid] während der G20-Proteste in Hamburg ganz selbstverständlich eine Krake mit Dollarzeichen am Kopf, obwohl diese bereits 1938 in der Nazi-Zeitschrift „Stürmer“ antisemitisch genutzt wurde. Ein weiteres Beispiel liefert ein Vortrag, welcher im Zuge der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2019 in Wien unter dem Titel „Geld regiert die Welt… aber wer reGIERt das Geld?“ angekündigt wurde und berechtigterweise unter Verdacht stand, strukturell antisemitisch zu sein. Hier wird zum einen das verschwörungsideologische Bild der Krake genutzt, welche im Verborgenen die Welt regiert und die imaginierte Übermacht von Jüdinnen und Juden versinnbildlicht, zum anderen auch Kapitalismus personifiziert und eine gierige Elite als Sündenbock gezeichnet. Bei beiden handelt es sich um althergebrachte antisemitische Stereotype.

Aber wir sind doch alle Antirassist:innen

Immer wieder wird davon ausgegangen, dass Antisemitismus eine Form von Rassismus sei und somit durch eine antirassistische Agenda abgedeckt würde. Doch auch wenn beide Diskriminierungsformen Ähnlichkeiten teilen, bringt Antisemitismus noch weitere Dimensionen mit sich. Teil eines antisemitischen Weltbilds ist die Gleichzeitigkeit Jüdinnen und Juden als allmächtige Unterdrücker:innen darzustellen, während sie zugleich antisemitisch abgewertet werden. Die Rolle als Unterdrücker:innen zeigt sich zum Beispiel bei israelbezogenem Antisemitismus, wenn die Geschichte des jungen Nationalstaats in ein Schwarz-Weiß-Denken über einen kolonialen Apartheidstaat und unterdrückte, revolutionäre Palästiner:innen gepresst wird. Die Komplexität des Konflikts sowie die Geschichte Israels im Kontext der Shoah wird hierbei schlichtweg ignoriert. Wenn man Antisemitismus als eine Unterform von Rassismus kategorisiert, werden diese Aspekte unsichtbar gemacht. Dieses Problem zeigt sich auch bei strukturellem Antisemitismus, welcher vorliegt, wenn sich der argumentative Wortlaut zwar nicht eindeutig gegen Jüdinnen und Juden wendet, aber sich in Argumentationsstruktur, Begrifflichkeiten und Bildsprache antisemitische Denkmuster zeigen.

Und jetzt?

Um diesen Missständen entgegenzutreten, braucht es Aufklärung und Bildungsarbeit, welche vielerorts von linken, jüdischen Initiativen wie Keshet Deutschland und Österreich, Veranstaltungen des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks oder Büchern, wie das kürzlich erschienene “Gojnormativität” von Vivien Laumann und Judith Coffey geleistet wird, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Doch damit ist es nicht getan. Es muss sich ein linkes Mindset im Bezug auf Antisemitismus grundsätzlich ändern und anerkannt werden, dass sich Antisemitismus durch alle politischen Lager zieht. Eben auch wenn er von woken Feminist:innen auf Twitter oder Rotfrontgruppen reproduziert wird.

So kann ich hoffentlich in ferner Zukunft meine verkaterten Gespräche im Park nicht nur über Hummus, sondern auch über Israel führen.

DORIS DANZER

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