“Nein, das ist kein Stück.”

“Nein, das ist kein Stück.”

In der Rezension der Aufführung “Der siebente Oktober” von Doron Rabinovici werden explizite Berichte  von sexualisierter und physischer Gewalt von Überlebenden des 7. Oktobers geschildert. 

Das Publikum betritt den Raum. Gegenüber der Sitztribüne ist nichts weiter als ein Tisch mit vier Sesseln, Skripten und Wassergläsern. Vier Schauspieler:innen des Burgtheaters, Philipp Hauß, Barbara Petrisch, Markus Scheumann und Andrea Wenzl,  nehmen Platz und beginnen zu lesen. Noch ist der Saal hell erleuchtet und es lässt sich ohne Probleme vom einen Ende des Raums zum anderen blicken. In dem anschließenden Prolog beharren die Lesenden auf dem immergleichen Punkt: “Nein, das ist kein Stück.” Dieser Text, der kein Stück ist, wurde vom israelisch-österreichischen Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici verfasst. Er selbst erzählt im nachfolgenden Podiumsgespräch, dass mit dem Hamas-Massaker des 7. Oktobers all seine vorherige Arbeit untergegangen sei. Der erste Teil des Textes stellt die Hintergründe und Entstehung desselben umfangreich dar. Er ist weder eine Rede noch Text für eine Kundgebung. Er möchte das Leid der einen Seite nicht gegen jenes “der anderen Seite” ausspielen und auch keine politische Analyse des Nahost-Konflikts bieten. Er ist auch keine Inszenierung im herkömmlichen Sinne, denn Rabinovici möchte in seiner Arbeit einzig und allein dem “Wesentlichen seinen rechtmäßigen Raum gewähren”.  

Das Wesentliche      

Was Rabinovici mit dem “Wesentlichen” meint, zeigt sich eindrücklich im Hauptteil der Aufführung. Über eine Stunde lang verlesen die Schauspieler:innen  aus der Ich-Perspektive eine große Sammlung an Zeug:innenberichten des 7. Oktobers. Dadurch erhalten die Kibbutzim an der Grenze zum Gazastreifen und das Nova-Musikfestival für Frieden als Schauplätze der Grausamkeit eine ungeheure Nahbarkeit. Alleine das Zuhören ist wirklich schwer zu ertragen. Ein Familienvater verbarrikadiert sich und seine Kinder stundenlang zu Hause und lässt  die  gesamte  Zeit über die Türklinke nicht los. In den Whats-App Gruppen der Kibbutzim flehen Familien um Hilfe, ihre Häuser wurden in Brand gesetzt und vor ihren Schutzräumen warten Terroristen der Hamas, um sie zu erschießen. Ein junges Elternpaar teilt sich die Verantwortung um den Schutz der neugeborenen Tochter: Die Mutter Shaylee Ataray hält das Kind, der Vater Yahav wartet an der Tür. Als Terroristen ihr Haus stürmen, kämpft Yahav bis zu seinem Tod, um seiner Frau und ihrem Neugeborenen die nötige Zeit zur Flucht zu verschaffen. Trotz ihrer körperlichen Einschränkung rannte sie mit ihrem Kind in der Hand davon und es gelang ihnen zu überleben. Eine weitere Mutter, die ihren Kindern auf die Frage „Was geschieht jetzt mit uns?” antwortet: “Wir werden jetzt sterben.” Eltern, die vor den Augen ihrer Kinder ermordet werden und Zivilist:innen, von jung bis alt, die ihren Familien entrissen und in den Gazastreifen entführt werden. Eine Seniorin, deren Tochter verschleppt wurde, stellt sich stundenlang tot und kann trotz schwerer Verletzungen letztendlich überleben. Junge Festivalbesucher:innen berichten von Freund:innen, die neben ihnen vergewaltigt, verstümmelt und ermordet werden. Ein weiterer junger Mann ist mit seiner Tochter, die gelähmt ist, zum Nova-Festival angereist. Die Leichen von Beiden werden vollkommen verbrannt und entstellt aufgefunden. Eine zurückgekehrte Geisel berichtet von der Vergewaltigung ihrer Freundin in der Gefangenschaft in Gaza durch einen Hamas Terroristen. Als sie ihrer Freundin Trost spenden will, verbietet er den beiden, sich zu umarmen. 

Wer fühlt sich angesprochen? 

Diese schmerzhafte Aneinanderreihung der Überlebendenberichte, die im vorangegangenen Absatz nur unzureichend umrissen werden konnten, beabsichtigt also die Sichtbarmachung derselben. In einer Art und Weise ist das kontraintuitiv. Kaum ein Massaker ist so sichtbar, wie jenes des 7. Oktobers. Eine zweiminütige Googlesuche ist ausreichend, um alles an extrem explizitem, größtenteils von der Hamas selbst gefilmten Bildmaterial ihrer genozidalen Gräueltaten einzusehen. Gleichzeitig sind sowohl die israelische Bevölkerung als auch die jüdische Diaspora seit nun knapp neun Monaten alltäglich mit der Leugnung und Relativierung des Hamas-Massakers konfrontiert. Auf eine Art und Weise beabsichtigt “Der Siebente Oktober” also nicht wirklich die Sichtbarmachung, sondern vielmehr das Insistieren auf das, was eigentlich nicht zu übersehen ist. Letztendlich stellt sich die Frage, wen Rabinovici mit seiner Aufführung eigentlich adressiert und wer sich angesprochen fühlt. Für die jüdische Gemeinde stellen solche Veranstaltungen jedenfalls eine Möglichkeit zur Begegnung mit dem erfahrenen Trauma dar, also eine Art Konfrontationstherapie. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch alle weiteren Anwesenden der Aufführung gerade nicht diejenigen sind, die von der Grausamkeit einer radikalislamistischen Terrororganisation überzeugt werden müssen. Vielmehr wäre ein Publikum, bestehend aus der breiten Mitte der Personen, die plötzlich alle eine scheinbar qualifizierte Meinung zu dem Thema haben, erwünscht.

Vielleicht ist das auch nicht entscheidend. Der Veranstaltung und der Aufführung liegt vor allem auch eine Symbolwirkung zugrunde, die durchaus das Potenzial birgt, über den polarisierenden Diskurs hinauszugehen und diesen in eine Richtung zu verschieben, der das Leid der Betroffenen als zentrale Gegebenheit zementiert. Damit soll keineswegs die politische Komplexität ausgeklammert werden. Vielmehr geht es darum,
diesem Wesentlichen, also der menschlichen Realität des Konflikts – zu deren Anerkennung wir verpflichtet sind – zu verhelfen, ins Zentrum der Betrachtung zu gelangen.  

Immanuel Turkof

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