Über Kontinuität und Projektion

Über Kontinuität und Projektion

Die Seele des türkischen Nationalismus

„Die Sonne färbte sich vor Scham gelb“ schrieb der alevitisch-kurdische Sänger Ferhat Tunç in seinem Lied über das „Sivas–Massaker“ von 1993, bei dem ein Lynchmob aus türkischen Nationalisten, Grauen Wölfen und Islamisten unter „Allahu Akbar“-Rufen ein Hotel in der türkischen Stadt Sivas in Brand steckte, in dem gerade ein alevitisches Kulturfestival stattfand. 35 Menschen verloren in den Flammen ihr Leben. Die ganze Nation verfolgte die Geschehnisse stundenlang live im Fernsehen. Konsequenzen und Aufarbeitung gab es nicht, der damalige Staatspräsident sprach von einem Einzelfall, der Innenminister von einer Provokation seitens des Festivals. 

Von Sivas bis nach Limburg

Ähnliche Erklärungsmuster lieferten die Behörden und politischen Funktionsträger:innen nachdem es vergangenen März in Belgien, in der Provinz Limburg, zu einer Welle an rassistischen Ausschreitungen gegen Besucher:innen des kurdischen Neujahrsfestes Newroz kam. Bei den Angriffen wurden mehrere kurdische Familien von türkischen Nationalisten attackiert und sechs Personen teils schwer verletzt. Aufnahmen, die von den Angreifenden stolz in den sozialen Medien geteilt wurden, zeigen, wie ein türkischer Mob unter „Allahu Akbar“-Rufen versucht, gewaltsam in das Haus einer kurdischen Familie einzudringen, die sich davor dort verbarrikadiert hatte. Aus später veröffentlichten Videos ging hervor, dass sich im Haus auch Kinder und alte Menschen aufhielten, denen das Entsetzen aus den Augen sprach. In ihren angsterfüllten Gesichtern zeichnete sich der Horror und der Schmerz über jene Gewalt ab, denen Kurd:innen nun seit über einem Jahrhundert ausgesetzt sind, innerhalb und außerhalb des türkischen Staatsgebietes. Die Angst, ein weiteres Opfer dieser Kontinuität zu werden, ist mehr als angebracht. 

Am Anfang stand der Genozid

Diese immer wieder als Einzelfall betitelten Ereignisse häufen sich seit dem Auftreten des türkischen Nationalismus ins Endlose. Mehr noch, sie sind bereits in dessen Genese eingeschrieben. Beeinflusst durch die Nationalbewegungen in Europa, bildete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die politische Bewegung der „Jungtürken“ heraus – eine Gruppe von Intellektuellen, Beamten und Offizieren, die in engem Austausch mit dem Deutschen Kaiserreich standen und nationalistische Ideen der Modernisierung propagierten. Die zentralen Säulen der türkischen Staatsideologie zeichneten sich jedoch schon vor seiner institutionellen Etablierung ab: Rassismus und Antisemitismus, Projektion und Verschwörung. Wie jede moderne Herrschaftsideologie, suchte auch der türkische Nationalismus nach Wegen, um soziale Spannungen und komplexe Widersprüchlichkeiten in der nationalen Einheit zu befrieden. Als Mittel dafür diente die Projektion alles Unerklärbaren, Verdrängten und Uneindeutigen auf einen imaginierten äußeren oder inneren Feind. Ein Verschwörungswahn, der sich spätestens in der Hetzkampagne der Jungtürken gegen die Armenier:innen entladen sollte, denen vorgeworfen wurde, das Reich von innen zersetzt und somit den äußeren Feinden zum Sieg im Ersten Weltkrieg verholfen zu haben. Der Genozid von 1915, also die Ermordung von etwa 1.5 Millionen Armenier:innen, wurde auch von der muslimischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches mitgetragen. Nach der Republiksgründung durch Mustafa Kemal Atatürk 1923 wurde diese muslimische Einheit durch eine säkularisierte, völkische abgelöst: die türkische Nation. Die türkische Identität wurde mit dem säkularisierten Islam synonym gesetzt, alle anderen Religionsgruppen wurden somit zur Alterität, zum staatszersetzenden Fremdkörper erklärt. Schon in den nächsten Jahrzehnten sollte die neugeborene Republik ganz im Sinne der Losung Atatürks, „ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Nation“, zu sich finden. 

Hinter Allem das „Andere”

Unter dem Vorwand der Sicherheit des Staates und der Förderung der nationalen Einheit wurden hunderttausende Menschen Opfer von systematischer Gewalt und Vertreibung. Es folgte eine brutale Politik der Assimilation und Homogenisierung in Form von Deportationen und Massakern an griechischen, assyrischen, kurdischen und alevitischen Minderheiten. Genährt vom Verschwörungsdenken, stellte auch der Antisemitismus eine zentrale Säule des türkischen Nationalismus dar, der nach erneuten nationalistischen Hetzkampagnen in den „Varlık Vergisi“ gipfelte. Eine Vermögenssteuer, die vor allem Jüdinnen und Juden, aber auch Christ:innen in der Türkei ab 1942 entrichten mussten und die faktisch zu ihrer Enteignung führte. Wer sie nicht begleichen konnte, wurde ins Arbeitslager deportiert. Die „Varlık Vergisi“ ist als weitere konkrete Maßnahme der „Türkisierungspolitik“ gegen nicht-muslimische Minderheiten zu verstehen, die als Sündenböcke für die sich verschlechternde ökonomische Situation herhalten mussten. Dieselben Verschwörungsnarrative werden in der Türkei bis heute als innenpolitisches Ventil gegen Minderheiten zum Zwecke der nationalen Einheit genutzt. Die regierende „Volksallianz”, ein Wahlbündnis aus der islamisch-konservativen AKP und der rechtsextremen, ultra-nationalistischen MHP,  setzt den Kampf für „Türkisierung“ fort – und das weit über die Grenzen der Türkei hinaus. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf waren es die syrischen Geflüchteten, die von den meisten Parteien für die Inflation verantwortlich gemacht wurden und die Nation von innen zersetzen würden. Für die verheerenden Waldbrände im Sommer 2021 wurden in sozialen Medien klar die „Zionisten“ und die  von ihnen angeblich bezahlte militante kurdische Arbeiterpartei PKK als Drahtzieher identifiziert. Der Antisemitismus, der antikurdische und antiarmenische Rassismus und das Verschwörungsdenken dienen dem islamistischen Fundamentalismus und den völkisch-nationalistischen Strömungen als Brückenkopf. Der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK liefert keine Erklärung für die sich seit der Staatsgründung 1923 immer wieder entladende, institutionalisierte Gewalt gegen alle in der Türkei lebenden Kurd:innen. 

Kontinuitäten in Europa

Mit den Migrationsbewegungen aus der Türkei und den „Anwerbeabkommen“ seit den 1960ern verbreiten sich diese Tendenzen auch im Rest Europas. Mehr noch: sie werden vom türkischen Staat gezielt gefördert. Während die Grauen Wölfe in Deutschland die zahlenmäßig größte rechtsextreme Organisation darstellen, gibt es auch in Österreich unzählige „Kulturvereine“, die politische sowie finanzielle Verbindungen zur türkischen Regierung unterhalten, gezielt nationalistische Propaganda verbreiten oder politische Gegner:innen ausforschen. Die Angriffe auf die kurdischen Familien in Belgien führen nun erneut eine Gefahrenlage vor Augen, die schon seit über 100 Jahren besteht. Da die nationale Einheit nie ohne die Projektion eines jeden komplexen Phänomens auf das „Andere” und die Vorstellung einer Verschwörung äußerer und innerer Feinde auskommt, ist der Antisemitismus und der Hass auf Minderheiten dem türkischen Nationalismus inhärent. Er funktioniert heute jedoch dezentral und losgelöst vom türkischen Staatsgebiet, und wird immer wieder aktualisiert und transformiert. Die Verklärung der Angriffe in Belgien als „beidseitige Provokation“ ist hier genauso geschichtsrevisionistisch wie gefährlich. Die bloße Existenz von Kurd:innen bleibt zu gleichen Teilen Provokation und Störfaktor, wie sie auch die Voraussetzung für die türkische Nationalidentität ist. 

Lori Şahan

Hinterlasse einen Kommentar