Filmrezension – Schächten (2022)
Der Film begleitet Victor Dessauer bei seinem schwindenden Vertrauen in die österreichische Justiz, bevor er beschließt, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen.
Handlung
Schächten von Thomas Roth ist ein österreichischer Film, der hauptsächlich im Österreich der 1960er Jahre spielt. Der junge Wiener Jude Victor Dessauer (Jeff Wilbusch) macht es sich zur Lebensmission, den NS-Mörder seiner Familie der Gerechtigkeit zuzuführen. Für Unterstützung wendet er sich mithilfe seines Vaters (Michael Abendroth) an Simon Wiesenthal (Christian Berkel).
Nach einigen Komplikationen bringen sie den SS-Unterscharführer und Kommandanten des KZ Mauthausen Kurt Goggl (Paulus Manker) vor Gericht. Dieser nimmt nach dem Krieg den Nachnamen seiner Frau an und ist als Schuldirektor in einem österreichischen Dorf sozial gänzlich integriert.
Victors Vater, der die Ermordung seiner Familie mit eigenen Augen miterleben musste, ist Hauptzeuge und identifiziert Goggl sofort, gemeinsam mit vielen weiteren. Nach einem absurden Prozess, welcher schon viel früher hätte stattfinden sollen, kommt es zu einem absurden Urteil: Freispruch. Dies möchte Victor nicht akzeptieren.
Eindruck
Filmtechnisch hat Schächten einiges zu bieten. Ausgezeichnetes Casting, insbesondere von Wiesenthal, der zudem auch noch großartig geschrieben ist. So ist er mit seinem Bleistiftbart und den bedachten Sätzen sehr realitätsgetreu dargestellt. Großes Lob gilt auch den mitreißenden Leistungen aller Hauptdarsteller:innen, die den Film auf die emotionale Ebene bringen, welche ihm gebührt.
Erwähnenswert sind außerdem die Figuren der Freunde des Angeklagten: Jene Dorfnazis, welche die jüdischen Zeug:innen während des Gerichtsprozesses im schleimigen Dialekt verhöhnen, erinnern einen wirklich an die Heimat. Darüber hinaus ist beachtenswert, wie Roth den Rest der österreichischen Gesellschaft darstellt. Denn nicht nur der Mauthausen-Kommandeur ist Judenfeind. Über den Film wird der Protagonist von unzähligen Seiten mit Antisemitismus konfrontiert. Ein Polizist meint, alle Jüdinnen und Juden seien Banker. Im Augarten, beim Fußballspielen, wird er antisemitisch beschimpft. Auch die Familie seiner Freundin Anna (Miriam Fussenegger) ist nicht allzu glücklich darüber, dass ihre Tochter mit einem Juden zusammen ist.
Eine weitere imposante Komponente des Films waren die vielen Szenen und schönen Bilder der österreichischen Natur. Idyllische Winterlandschaften, die symbolisch aufzeigen, wie unschuldig und perfekt Österreich nach außen ist. Man müsste schon tief in den Schnee buddeln, um die ersten Leichen zu finden. Schächten gelingt es außerdem, eine Reihe relevanter Themen aufzugreifen, welche die Zuschauer:innen beim Verlassen des Kinosaals zum Weiterdenken anregen. Ganz ohne Filter entblößt der Film die junge Republik Österreich, die von Feigheit und Ignoranz geprägt ist. Niemand möchte über den Krieg sprechen. Man hat lediglich nur Befehle befolgt und ist an nichts selbst schuld, wenn man denn überhaupt von „etwas“ wusste. Von einem Tag auf den anderen verschwinden plötzlich alle Nazis in der allgemeinen Gesellschaft und niemand weiß, was gestern noch vor den Augen aller und durch die Hilfe vieler geschah.
Um es sich leichter zu machen, schrieb sich Österreich den wunderbaren Titel „Erstes Opfer Hitlers“ auf alle noch schnell ausgetauschten Fahnen. Somit machten sie den Nationalsozialismus zu einem deutschen Problem und widmeten ihre Ressourcen der Errichtung dieses Bildes weitaus mehr als der eigentlichen Verfolgung von Nazis und der eigentlich daraus resultierenden Aufklärungsarbeit. Dadurch wurden zuerst ausschließlich die 100.000 Nazis, die schon vor 1938 NSDAP-Parteimitglieder waren, als es in Österreich verboten war, rechtlich verfolgt und verurteilt.
Das Bild von Österreich als Opferland bestand bis in die 1990er Jahre. Jegliche Darstellung als Täter wurde großteils von der „Golden Generation“ vehement verurteilt. Damit verbunden verbildlicht der Film das erschreckende Phänomen, dass die Betroffenen selbst gegen die Ohnmacht des Staates agieren müssen. Wieso hat es überhaupt Simon Wiesenthal gebraucht?
„Die Geschichte eines Volkes ist keine Fahrt mit einem Autobus, wo man an einer Station aussteigen kann, spazieren geht und wieder einsteigt, wo es einem passt. Man muss alle Stationen durchfahren. Und es gibt natürlich Österreicher, die im Jahre 1938 gerne aussteigen und im Jahre 1945 in den Autobus wieder einsteigen möchten.“
– Simon Wiesenthal
Ich hatte zwar das Privileg, Schächten schon beim Pressescreening zu erleben, doch wenn diese NOODNIK-Ausgabe veröffentlicht ist, kann jede:r auch ins Kino gehen und ihn sehen. Der Film ist es auf jeden Fall wert.
Zusammenfassend bietet er ein authentisches Bild der österreichischen Aufarbeitungskultur und motiviert zudem auch zu einem Realitätscheck des eigenen Landes.
Special Shoutout an meinen Bar-Mitzvah-Lehrer und Wiener Oberkantor Shmuel Barzilai, der mit seiner Cameo selbstverständlich allen anderen Schauspieler:innen die Show stiehlt.
Basierend auf einer wahren Geschichte
Fast alle Charaktere in Schächten sind frei erfunden. Die Geschichte basiert jedoch auf einem ähnlichen Fall, der zur selben Zeit in Österreich stattfand: Jener von Franz Murer. Murer, auch „Schlächter von Wilna“ (Anm.: Wilna steht für Vilnius, die Hauptstadt von Litauen) genannt, war ein österreichischer Akteur der NSDAP. Von 1941 bis 1943 war er in Wilna der Zuständige für „jüdische Angelegenheiten“. In seiner Zeit dort wurde er als Sadist gefürchtet. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung Wilnas sank unter seinem Kommando von 80.000 auf 600.
Bei den Nürnberger Prozessen wurden einige von Murers Verbrechen, unter anderem das Schikanieren, Foltern und Ermorden der jüdischen Bevölkerung Wilnas benannt. Er wurde 1947 festgenommen und an die Sowjetunion übergeben, da Wilna mittlerweile zum litauischen Teil der UdSSR gehörte. Als Murer 1955 an die österreichischen Behörden übergeben wurde, verfolgten diese ihn strafrechtlich nicht mehr.
Er kam erst 1962 erneut vor Gericht, nur dank des Eingreifens von Simon Wiesenthal selbst. Ganz wie im Film wird Murer ein Jahr später, trotz Aussagen von Augenzeugen, die von Schikanen und der Exhumierung von Massengräbern berichten, freigesprochen.
Der Verbrecher lebte bis an sein Lebensende in einem Dorf in der Oststeiermark und war dort als Bezirksbauernvertreter für die ÖVP aktiv.
Immanuel Turkof